1. Reenactment

Foto: Apa

Seit Jahr und Tag Dokumentationen zur Geschichte auf vielen Fernsehkanälen. Historiker und Historikerinnen berichten und erklären zumeist kundig, was 1918, 1938, 1939, 1945, 1956 usw. geschah. Fotografien und Filme, oft schwarz-weiß.

Patina und mit ihr verstörende Fremdheit werden evoziert, erzeugen etwas Gespenstisches. Denn man bekommt zu spüren, dass die allermeisten Menschen, die sich da in Massen versammeln, auf Straßen gehen, in Kaffeehäusern sitzen, Reden halten oder wichtige Verträge unterzeichnen, schon lange tot sind, und man fühlt dabei, dass man schon bald, in der übernächsten Dokumentation vielleicht, selbst eines dieser Gespenster sein könnte. Das Zusammenspiel von historischen Berichten und Erklärungen mit jener verstörenden Fremdheit ist keine schlechte Voraussetzung für historische Erkenntnis.

Aber dann auf einmal erscheint etwas allzu Vertrautes in heutigen Fernsehfarben, und man begreift: Das soll ja der Kronprinz Rudolf sein, der sich da in einer waschechten k. u. k. Uniform den schwarzen Schnurrbart streicht, und jetzt, schau einmal einer an, nimmt er die Mary Vetsera, die süße Wiener Baronesse, in den Arm; und hier wieder sieht er geradezu selbstmörderisch melancholisch, aber auch geschichtsträchtig in die Ferne. Und die schönen Pferde, die Kutschen, und dann und wann ein Satzerl in herzigem Schönbrunnerdeutsch.

Bitte, liebe sogenannte Sendungsverantwortliche, lasst ab von dieser Komparsen- und Requisitenschaustellerei, bitte kein Reenactment mehr! Wenn ihr schon glaubt, wir seien so dumm und infantil, dass Dokumente, Berichte und Erklärungen nicht ausreichen, dann lasst diese vorgeblichen historischen Szenen wenigstens von Marionetten aufführen oder zeichnet sie als Comics. Oder, am besten, verkleidet die hierzulande so beliebten Gartenzwerge als Kronprinz Rudolf, Kaiser Franz Joseph und womöglich auch als Hitler, Göring, Goebbels usw. Das könnte dann vielleicht neben der historischen auch zur psychoanalytischen Aufklärung von uns Deutschösterreichern beitragen.


2. Breaking News

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Merkwürdig, man kann’s auch anders verstehen. Nicht nur als eine sendungsunterbrechende Nachricht, sondern auch als etwas, das Nachrichten bricht; als eine Art daher, sie zu beschädigen. Das stimmte dann aufs Wort. Denn Nachrichten werden schon damit gebrochen, dass sie auf etwas verweisen, das nicht zu ihnen gehört. Und das Nachahmen eines Senders wie CNN und der Wunsch, amerikanisch oder gar weltweit zu sein, was uns da Tag für Tag untergründig mitgeteilt wird, sollen sicher kein Teil der Nachrichten sein.

Es ist eben so wie in vielen sozialen Bereichen: Man will sein, was man nicht ist, und darüber hinwegtäuschen, indem man Mimikry treibt. In Friedrich Torbergs Tante Jolesch wird von dem Schriftsteller Otto Soyka erzählt, der als Herrenreiter verkleidet, also in Reithosen und gespornt und gestiefelt, ins Café Herrenhof spaziert. Alfred Polgar kommentiert: "Ich habe ja auch kein Pferd, aber so kein Pferd wie der Soyka ..."

Die Analogie liegt auf der Hand. Ich fantasiere: Eines Tages titelt CNN nicht mehr Breaking News, sondern, zum Beispiel, Schlagzeilen. Nämlich in der kontrafaktischen Annahme, damit von der weltumspannenden Aura des Küniglbergs zu profitieren, die dann bis in transatlantische Newscenter reichen soll. Da wäre man auf dem Küniglberg einerseits mächtig stolz, andererseits müsste man dann womöglich auf Breaking News verzichten und zu Schlagzeilen zurückkehren oder wenigstens zu schlagende Zeilen. Das wäre aber, zugegeben, ein gefährlicher Vorschlag. So wie der Küniglberggeist nun einmal weht, könnte daraus bald Hitnews oder auch Newshit werden. – Und merkwürdig, dieses letzte Wort kann man nicht nur anders verstehen, sondern zudem noch anders lesen; und dann liefe es geradezu auf eine Selbstreflexion, ja sogar auf eine (ziemlich drastische) Selbstkritik der Sendungsverantwortlichen hinaus. Und das wäre dann einmal eine gute Nachricht.


3. Das amerikanische "r"

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Reuters

Kaum jemand in den Medien kommt heute ohne das amerikanische "r" aus; ob von New York oder vom englischen Yorkshire (Pudding oder Terrier) die Rede ist: In sonst oft sehr deutsch oder österreichisch gesprochenem Englisch (Tschikago und Uniwhersity zum Beispiel) bekommt man es fast immer zu hören. Und wenn erst von der Kunst die Rede ist, dann scheint es ganz unvermeidlich. Niemand mehr spricht das "r" in "art" unhörbar und also britisch, alle sagen "art", dass sich dabei die Zunge so richtig an den Gaumen dreht.

Warum aber? Was geht da vor? Ob man sich mit diesem "r" sogleich in die großen Kunstmetropolen versetzt vermeint? Etwa auf eine 5th Avenue und in ein Museum of Modern Art? Es ist, als fühlte dabei jemand alles Provinzielle ausgetrieben, ja sich mit einem einzigen Laut urbanisiert oder gar globalisiert. Und dass dieses Gefühl und sein Ausdruck unbewusst und also mysteriös bleiben, steigert womöglich die Lust der illusionären Teilnahme an der internationalen Kunstwelt: Je weniger Kunsterfahrungen man hat, umso eher scheint ein Laut die magische Kraft zu haben, sie zu ersetzen.

Kommt es am Ende daher, dass mich dabei in meinem kleinen Krähwinkel der Bronner-Qualtinger’sche Bundesbahnblues überfällt, dass ich mich fühle wie in, ja wie in Laa an der Thaya, wenn nicht sogar wie in Unter- und Oberstinkenbrunn?


4. Volksbefragung

Foto: Filmladen

In Nachrichtensendungen fragt man neuerdings so gerne die Frau, den Mann von der Straße. Man schaut dem Volk aufs Maul, man will um keinen Preis langweilig sein, vor allem aber ist man auf angebliche Authentizität, nämlich auf sogenannte O-Töne aus: Eine Frau X, ein Herr Y stehen vor der U-Bahn-Station in Wien oder Berlin Mitte, und man hält ihnen ein Mikrofon vor den Mund und stellt Fragen wie: Was halten Sie vom Streik der Fluggesellschaft Z? oder: Was sagen Sie zum Brexit?

Wie aber soll man der Auswahl der Antworten trauen? Der Verdacht ist schwer abzuweisen, dass das jeweilige Medium die Antworten herausbekommt, die es in die Leute hineinfragt. Und sollte er doch unbegründet sein, so sind diese Straßenbefragungen mindestens unökonomisch. Dann wären statistische Informationen, Ergebnisse von Meinungsumfragen das angemessene Mittel, um darüber zu informieren, was Leute denken.

Etwas anderes aber fällt, wie ich finde, mehr ins Gewicht: Die Antworten sind, wie kann es anders sein, stark durch Verlegenheit (ich bin im Fernsehen!) und Überraschung gehemmt, überhaupt macht sich die Überforderung durch die Interviewsituation bemerkbar. Zu oft scheinen die Befragten indiskreterweise aus ihren Tagträumen gerissen, aus sehr privaten Sphären jedenfalls. Die Folge davon ist allzu oft, dass die Leute durch ihre Antworten oder durch Mimik und Gestik als bloßgestellt erscheinen, dass sie einigermaßen vorgeführt werden. Unversehens fühlt man sich in eine Dokumentation Elizabeth T. Spiras oder gar in einen Film von Ulrich Seidl versetzt. Diese Wirkung, mag sie dort auch gerechtfertigt sein, will und soll man aber in einer Nachrichtensendung nicht erzielen.


5. Mann überfällt Tankstelle ohne Schuhe

Foto: APA

Dieser Satz – aus einer Online-Nachricht des ORF – ist grammatisch ambig: In einem eher surrealen Text könnte auch eine barfüßige Tankstelle gemeint sein. In einer Schlagzeile tut dies nichts zur Sache, denn sie führt zu keinem Missverständnis.

Vermeidbar ist das Ambige allerdings, etwa durch: Mann ohne Schuhe überfällt Tankstelle. Möglich wäre auch: Barfüßiger Mann überfällt Tankstelle. Vielleicht wäre diese Formulierung sogar vorzuziehen, da sich dann das Barfüßigsein grammatikalisch als das zeigt, was es tatsächlich sein soll, nämlich als Eigenschaft des Mannes.

Andererseits bietet "Mann überfällt Tankstelle ohne Schuhe" durch den Verlauf des Satzes mehr Spannung. Denn zunächst verläuft alles erwartungsgemäß: Denn es wird ja nicht selten berichtet, dass jemand eine Tankstelle überfällt. Erst am Ende des Satzes folgt die Überraschung: ohne Schuhe. Ein ungesagtes "aber" schwingt hier mit. Allerdings ist auch diese Spannung für eine Schlagzeile irrelevant. (In einem Werbetext wäre das womöglich anders).

Und warum übrigens nicht "Räuber überfällt Tankstelle ohne Schuhe"? Die Klassifikation nach Geschlecht Mann/Frau ist doch hier nicht wichtig. Allerdings enthielte dieser Satz nur dann keinen Pleonasmus, wenn der Mann schon quasi berufsmäßig ein Räuber wäre und ebendies ausgesagt würde. Ist man jedoch auf Symmetrie, geradezu auf verwirrende Sinnvielfalt aus, dann wäre diese mit dem Satz "Barfüßiger Mann überfällt Tankstelle ohne Schuhe" hergestellt. Hier sind sowohl ein Pleonasmus als auch eine barfüßige Tankstelle möglich – und jedenfalls viel zu viel für eine Schlagzeile.

Der Satz "Mann überfällt Tankstelle ohne Schuhe" enthält aber auch metaphorische Möglichkeiten. In einem Räuber-Rotwelsch könnte er bedeuten, dass der Mann eine Tankstelle überfallen hat, in der es kein Geld zu holen gibt. Diese Tankstelle wäre dann gleichsam barfuß.

Der Normalfall ist natürlich, eine Schlagzeile einfach als solche zu konsumieren, und das heißt, über sprachliche und kontextuelle Möglichkeiten hinwegzusehen. Der Literaturwissenschafter und Schriftsteller Hans-Jost Frey nennt diesen Normalfall Sprachvergessenheit. Das Gegenteil davon wäre dann, und nicht nur um des Reimes willen, Sprachbesessenheit.

Die Frage, mit der die Literatur beginnt oder aber endet, ist: Bedeutet Sprachvergessenheit Weltbesessenheit oder, im Gegenteil, Weltvergessenheit? (Franz Josef Czernin, ALBUM, 8.2.2020)