Kurz vor der Wahl liegt die republikanische Sinn-Féin-Partei von Mary Lou McDonald überraschend vor der Fine Gael von Premierminister Leo Varadkar.

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Die Partei, die einst der politische Flügel der Untergrundorganisation IRA war, steht möglicherweise kurz vor dem politischen Durchbruch in der irischen Republik. Am Samstag wird in Irland gewählt, und Sinn Féin (irisch für "Wir selbst") liegt überraschenderweise in den Meinungsumfragen vorn. Als der Wahlkampf begann, lag Sinn Féin noch an dritter Stelle mit rund 20 Prozent. Die jüngste Umfrage sieht die Partei führend bei 25 Prozent der Stimmen.

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Die Regierungspartei Fine Gael ("Familie der Iren") ist dagegen mit 20 Prozent auf den dritten Platz gerutscht, während die konservative Fianna Fáil ("Krieger des Schicksals") bei 23 Prozent liegt.

Varadkar unter Druck

Das hatte sich Premier Leo Varadkar anders vorgestellt, als er vor drei Wochen vorgezogene Neuwahlen anberaumte. Immerhin konnte sich der Regierungschef dazu gratulieren, das Land erfolgreich durch die Brexit-Wirren gesteuert und vorerst erreicht zu haben, dass es keine harte Grenze zwischen der Republik und Nordirland geben wird.

Außerdem geht es der Volkswirtschaft gut. Aber die Themen Brexit und Wirtschaft verfingen im Wahlkampf nicht. Stattdessen dominierten Gesundheit und Wohnungsbau. Und für die chaotischen Zustände in den Krankenhäusern und die Wohnungsnot im Land machen die Bürger die Regierung verantwortlich. Nach mehr als zweieinhalb Jahren im Amt muss Varadkar sich auf eine Abwahl einstellen, obwohl der 41-jährige Sohn eines indischen Arztes und einer irischen Mutter im Land durchaus populär ist.Sinn Féin dagegen wird trotz der guten Umfragewerte sicher nicht den nächsten Premierminister stellen.

Zum einen geben Meinungserhebungen bei dem notorisch komplizierten Wahlsystem Irlands nicht immer eine präzise Prognose, zum anderen hat Sinn Féin nur 42 Kandidaten aufgestellt, während eine parlamentarische Mehrheit im Dáil bei 80 Mandaten liegt.

Die linksnationale Partei profitiert davon, dass der Hunger nach Veränderung im Land stark ist, und stellt sich als die Anti-Establishment-Partei auf. "Fianna Fáil ist die Partei der Bauunternehmer", sagte die Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald bei der letzten Fernsehdebatte vor der Wahl, "und Fine Gael ist die Partei der Vermieter."

Koalition nicht ausgeschlossen

Das saß. McDonald musste nicht groß betonen, dass ihre Partei für den Rest der Bevölkerung streitet und mit einer Mietpreisbremse und einem massiven Wohnbauprogramm das Problem angehen will.

Bisher haben es die Establishment-Parteien immer abgelehnt, eine Koalition mit Sinn Féin einzugehen. Die Partei habe "Blut an den Händen", lautete der Vorwurf, weil sie das Sprachrohr für die Untergrundorganisation IRA war und für viele der Verbrechen im Bürgerkrieg mitverantwortlich sei. Doch mehr als 20 Jahre nach dem Friedensabkommen und der Aufgabe des bewaffneten Kampfes seitens der IRA wird es schwieriger für Fianna Fáil und Fine Gael, Sinn Féin weiterhin als politischen Paria zu behandeln. Während der Fernsehdebatte ließ daher auch Fianna-Fáil-Chef Micheal Martin ausdrücklich offen, ob er eine Koalition mit der früher IRA-nahen Partei eingehen werde.

Es kann gut sein, dass er darum nicht herumkommen wird. Auch Fianna Fáil dürfte, wenn die Stimmen ausgezählt sind, weit von der Mehrheitsmarke von 80 Sitzen entfernt sein. Als Preis für eine Koalition, so hat Mary Lou McDonald schon verlangt, müsste es innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Referendum über die Wiedervereinigung mit dem nordirischen Teil der Insel geben. Das würde die Dynamik in Zeiten des Brexits kräftig anheizen: Wenn der Süden sich für eine Vereinigung ausspricht, wird im Norden der Ruf nach einem Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich laut werden. (Jochen Wittmann, 8.2.2020)