Waren Sie einmal in einem Flugzeug voll mit Ökonomen? Die wichtigste US-amerikanische Konferenz, die ASSA (Allied Social Sciences Association), zieht jedes Jahr Anfang Jänner eine Flut von 13.000 internationalen Ökonomen für drei Tage in die USA. Nobelpreisträger treffen hier auf Dissertanten, denn die Konferenz ist zugleich der größte Jobmarkt in der Branche. Dieses Jahr fand die ASSA in San Diego, im Süden Kaliforniens, statt.

Für Europäer begann die Konferenz schon im Flug von Frankfurt nach San Diego, wo Ökonomen gefühlte 80 Prozent der Passagiere an Bord ausmachten. Auf dem Sitzplatz neben mir feilte ein Kollege noch rasch an seiner Präsentation. In der Reihe vor mir diskutierten zwei deutsche Wissenschafter ein ökonomisches Modell. In den engen Gängen der Economy Class wurden Termine für Jobinterviews vereinbart.

Auswanderung durch Netzwerke

Auf der Konferenz selbst war Migration eines der großen Themen dieses Jahres. In ihrer Studie "Like an Ink Blot on Paper" klärten Yannay Spitzer (Universität Jerusalem) und Ariell Zimran (Vanderbilt University) auf eindrucksvolle Weise eine wichtige offene Frage zur wirtschaftlichen Motivation von Migration, nämlich das "delayed migration puzzle". Die große europäische Auswanderungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert begann in vergleichsweise wohlhabenden Ländern wie Deutschland und England. Der ärmere Süden und Osten Europas wanderte viel später aus. Erst ab 1890 stellten Osteuropäer und Italiener die größten Einwanderergruppen in den USA. Wenn Wirtschaftsmigration von Einkommensunterschieden bestimmt wird, warum begann die Auswanderungswelle dann nicht in den ärmsten Regionen Europas? Wenn es nicht brennende Armut ist, die Menschen dazu bewegt auszuwandern, was ist es dann?

Was sind die Gründe für Migration?
Foto: https://www.istockphoto.com/at/portfolio/andreypopov

Spitzer und Zimran sammelten Daten über italienische Auswanderer zwischen 1876 und 1920 für jedes Dorf und jeden politischen Bezirk in Italien. Zielregionen waren Nordamerika, Südamerika und Europa. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Migrationsnetzwerke eine Hauptursache für Auswanderungswellen sind. Die Daten zeigen dies für alle drei Zielregionen – am stärksten für die Auswanderung nach Südamerika.

Auswanderung aus Italien nach Südamerika von 1876 bis 1914. Die dunklen Gebiete haben einen höheren Anteil an Emigration.
Foto: Yannay Spitzer und Ariell Zimran "Like an Inkblot on Paper: Testing the Diffusion Hypothesis of Mass Migration, Italy 1876–1920".

Ausgehend von vier kleinen Regionen in Italien breitete sich die Auswanderungswelle in angrenzende Nachbardörfer aus. Für den untersuchten Zeitraum betrug die Ausdehnungsrate im Schnitt 20 Kilometer pro Jahr. Auslöser dürften einerseits Briefe nach Hause gewesen sein und andererseits die Möglichkeit, bei bereits ausgewanderten Bekannten kurzfristig unterzukommen. Für die aktuelle Diskussion in Österreich und in den USA könnte das bedeuten, dass der Grund, warum Menschen aus vielen der ärmsten afrikanischen Länder noch nicht auswandern, die fehlenden Netzwerke in den Zielländern sind.

Individualismus der Auswanderer

Was Spitzer und Zimran nicht erklären können, ist, warum gerade diese vier Epizentren die Ausgangspunkte waren. Wer waren die ersten Pioniere unter den Auswanderern, denen all die anderen nachfolgten? Eine Antwort darauf könnte die neue Studie der Harvard-Ökonomin Anne Knudsen geben. Ihre Arbeit mit dem Titel "Those Who Stayed: Selection and Cultural Change during the Age of Mass Migration" untersucht die Auswanderungswelle aus Skandinavien, die etwa um 1880 ihren Höhenpunkt erreichte. Ihre Hypothese: Skandinavier mit mehr individualistischer Lebenseinstellung beziehungsweise einer weniger traditionsverhafteten Lebensweise waren diejenigen, die zuerst auswanderten. Sie bedient sich der sehr reichen und detaillierten Zensusdaten, die in Schweden und Norwegen bis zurück ins 19. Jahrhundert vorhanden sind. Aus den Ausschiffungsprotokollen der Hafenbehörden sammelte sie individuelle Informationen über 1,2 Millionen erstmalige Auswanderer (ohne Rückkehrer, Besucher oder Urlauber). Der Vorname dient der Autorin als Maß für den Individualismus des Auswanderers. Offenbar gab es einige wenige Vornamen, die sehr gebräuchlich waren. Zum Beispiel hießen etwa 15 Prozent aller schwedischen Mädchen im Jahr 1880 Anna.

Die häufigsten Vornamen für Buben und Mädchen unter zehn Jahren in Schweden, Norwegen und Dänemark. Angaben in Prozent.
Foto: Anne Knudsen "Those Who Stayed: Selection and Cultural Change during the Age of Mass Migration"

Tatsächlich sind es in den ersten Jahren die Träger von ungewöhnlichen Vornamen, die die Auswanderungslisten der Hafenbehörde dominieren. Sind damit die Pioniere unter den Auswanderern gefunden? An dieser Stelle sei erwähnt, dass es sich hier noch um ein Arbeitspapier handelt, das den Lesern gegenüber zwar den Mechanismus belegt, aber in einigen Bereichen die genauen Zahlen schuldig bleibt. Aus den jetzigen Zahlen lässt sich herauslesen, dass die Individualisten zu den Ersten gehören, die auswandern, während Skandinavier mit den gebräuchlichsten Vornamen dann auswandern, wenn bereits Netzwerke im Zielland vorhanden sind und sich auch andere aus demselben Dorf zur Auswanderung entschließen. Im Zielland hat diese Gruppe dann eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen anderen (ausgewanderten) Skandinavier zu heiraten und den Kindern Vornamen in der Heimatsprache zu geben. Knudsen, die selbst einen häufigen Vornamen hat und in den USA lebt, war eine der letzten Vortragenden. Für die vielen europäischen Teilnehmer der Konferenz begann danach die lange Reise zurück – nicht ohne auf dem Rückflug weiterzudiskutieren. (Valentin Seidler, 11.2.2020)

Valentin Seidler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie der WU Wien. Nach der Promotion im Jahr 2011 folgten Forschungsaufenthalte in Princeton, Warwick und Groningen. Von 2002 bis 2011 arbeitete Seidler für das Rote Kreuz in Osteuropa, Afrika, Asien und in Brüssel.