Lena ist eine junge, begabte Frau, die in der Jetztzeit lebt und herausfinden will, wie die Welt so tickt, was die Gesellschaft im Smoothieuniversum zusammenhält. Sie lebt in einer Kleinstadt, beobachtet tagtäglich das Geschehen, analysiert es und zieht daraus ihre Schlüsse.

Diese Frau ohne Eigenschaften stellte auf ihrem Konto fest, dass ihr langsam das Geld ausging. Denn vom Beobachten wird man bekanntlich nicht reich. Nach einem halben Jahr Auszeit wurde ihr bewusst, dass sie immer noch nicht so recht wusste, was sie zukünftig in ihrem Leben machen würde. Weder Informatikerin, Lehrerin, Sozialarbeiterin, Verlegerin, Kulturlady noch Wissenschafterin passten zu ihr. In diese Berufe hatte sie bisher hineingeschnuppert.

Fazit: Alle waren für sie enttäuschend. Viele Aspekte hatten sie gestört. Lena hatte fast immer die Erfahrung gemacht, schlecht bezahlt und ausbeuterisch behandelt zu werden, auch wenn der Job Anerkennung und Spaß versprach. Das Informatikstudium hatte sie abgebrochen, da sie leider zu wenig Ehrgeiz dafür aufbringen konnte. Außerdem war sie viel zu voreingenommen und fühlte sich nicht im Stande, dem Klischee eines gefühlsarmen männlichen Nerds im Tunnel mit offenen Schuhbandeln gerecht zu werden. Sie hatte genug von den klassisch bürgerlichen Berufen, in denen das Blabla gefragt war und nicht der Intellekt.

Auf zu neuen Ufern
Foto: Michael Grilz

Neuer Job

Da Lena sehr sportbegeistert war, entschied sie sich vorläufig in einem Fitnessstudio zu arbeiten. Sie erhoffte sich, endlich wieder einmal bodenständigen Menschen zu begegnen. Sie war gespannt auf die Friseurinnen, Bankangestellten, Verkäuferinnen und auf andere aus der Lohnarbeit. Sie wollte hinaus in die Welt, aber nicht in Form eines Work and Travel, wie es die reichen Kids für gewöhnlich tun. Sie entschied, aus ihrer wohlbehüteten Akademikerkinderstubenblase auszubrechen.

Sie hatte Glück und wurde sofort als Rezeptionistin in einem 0815-Fitnessstudio aufgenommen. Ihre Aufgaben waren nun, freundlich zu sein, Neukunden anzumelden und mit ihnen Führungen durch das Studio zu machen. "Als würde ich im Museum arbeiten", dachte sich die Frau ohne Eigenschaften. Außerdem musste sie kleinere Reinigungsarbeiten übernehmen, beispielsweise den Shakeautomaten fein säuberlich putzen.

Bei der Einschulung in ihren neuen Job stellte sie fest, wie herzlich und locker sie von den anderen Kolleginnen und Kollegen empfangen wurde. Da war Elvira, eine quirlige Trainerin Mitte vierzig, klein und an sich schmal gebaut, allerdings mit unfassbar breiten Schultern. So einen weiblichen Kasten hatte Lena noch nie zu Gesicht bekommen. Dann war da noch Petra, die einst als Modell für Versandkataloge gearbeitet hatte und nun die Buchhaltung im Fitti übernahm. Meistens arbeitete Lena mit ihrem Kollegen Kilian zusammen, der ein liebenswürdige Bursche war, aber leider viel zu viel über Autos sprach.

Aufs Glatteis geführt
Foto: Michael Grilz

"Blinded by the lights"

Lena war froh darüber, dass der Job einfach war und dass ihr die Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe und mit Respekt begegneten, obwohl klar war, dass die Frau ohne Eigenschaften aus einer anderen Welt stammte. Dennoch saß ihr die innere Zweiflerin, ihre Cheri Cheri Lady, oft ordentlich im Nacken. Diese sagte: "Keine zehn Tage hältst du es in diesem Job aus. Das schaffst du nie. Du wirst ständig Fehler machen, wenn du neue Mitglieder aufnimmst. Du wirst stottern. Du passt da nicht hin und alle werden es merken. Mach doch etwas Sinnvolles! Fitnessstudio? Bist du total übergeschnappt? Wozu hast du jahrelang studiert?"

"Dass ich da nicht hineinpasse, da hat meine Cheri Cheri Lady gar nicht so unrecht.", überlegte Lena. "Aber worum geht‘s denn eigentlich beim Arbeiten? Dass man Tag für Tag in eine Institution mit großem Namen spaziert, die patriarchal geführt wird, nur zwecks Geld und Titelgeilheit? Oder geht es vielleicht eher darum, dass man mit lustigen, normal gestrickten Menschen einen entspannten Tag verbringt, der einem das nötige Kleingeld zum Leben bringt?"

Vorläufig war Lena dankbar, einfach nur für ihre Freundlichkeit bezahlt zu werden und froh, in den nächsten Monaten mit Blinding Lights, dem Get-Lucky-Verschnitt, nicht auf den Leg Day verzichten zu müssen. (Katharina Ingrid Godler, 13.2.2020)

Fingerzeig

  • Die Folge entstand mit der musikalischen Begleitung von Modern Talking – Cheri Cheri Lady, The Weeknd – Blinding Lights, MC Fitti – Schöne Mädchen und Daft Punk – Get Lucky.
  • "Blinded by the lights" ist ein Zitat aus dem Lied Blinding Lights von The Weeknd.
  • Im Fitnessdiskurs werden Bodybuilder und jene, die es werden wollen, dazu angehalten, niemals auf den sogenannten Leg Day zu verzichten. Ein einseitiges Training, bei dem nur Oberkörper, Schultern und Arme trainiert werden, bringe nicht nur gesundheitliche Risiken mit sich, sondern führe zu unschönen Körperformen. Deshalb wird empfohlen, sich beim Training regelmäßig auf Gesäß und Beine zu fokussieren.
  • Michael Grilz (Geo- und Fotograf) begab sich für Die Frau ohne Eigenschaften auf Fotosafari und lieferte die Bilder für diese Folge.

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