14 Kandidatinnen und Kandidaten sitzen im Auftrag von Sat1 bei "Big Brother" für die nächsten 100 Tage fest. Sie haben es so gewollt.

Foto: Sat1

Als am 28. Februar 2000 der Privatsender RTL 2 zum ersten Mal eine Auswahl an 13 Freiwilligen für hundert Tage in einem Container zusammenspannte, war die Erwartungshaltung groß. Echte Menschen werden rund um die Uhr beobachtet, Masken werden fallen, Individuen die Kontrolle verlieren, und alle können sehen, wie sie im wirklichen Leben sind.

So versprach es der Sender mit dem vom Niederländer John de Mol erfundenen Format. Die Wächter der Moral verdammten Big Brother als "Sozialpornografie" und sahen eine unwürdige Form der Unterhaltung. RTL 2 nahm die Aufmerksamkeit erzeugende Kritik freudig an, die Bewohner waren so echt sie konnten. Das Publikum dankte und sah zu. Wieder und immer wieder. Bis 2015 kam Big Brother auf zwölf Staffeln.

Seit Montag haben sich nun wieder 14 Menschen zusammengefunden, um ihre Echtheit zu beweisen. Wer als Letztes auszieht, erhält 100.000 Euro Preisgeld. Die Rechte an der Show hat Sat1 seit 2019, der Sender zeigt montags um 20.15 Uhr eine "Liveshow" und werktags um 19 Uhr Zusammenschnitte. Zu bewohnen sind zwei Einheiten, die eine luxuriös und aufgrund ihrer Glasflächen gut einsehbar, die andere einfach, rustikal, mit kleinen Fenstern. 95 Kameras halten das Geschehen über 100 Tage fest.

Typen wie du und ich

Um "Charaktere wie du und ich" gehe es in Big Brother, sagte RTL-2-Chef Josef Andorfer vor zwanzig Jahren. Die Dus und Ichs waren bis dahin nur in Nachmittagstalks zu sehen, wo ihnen Moderatoren pseudointime Geständnisse entlockten. Wie sich diese Klientel verhält, wenn nur die Kamera und nichts sonst über sie wacht, war das Spektakel der Stunde. Zum ersten Mal ging es nicht um Ereignisse, sondern um Menschen und deren Emotionen.

Das war über weite Strecken ernüchternd langweilig, fand aber im geballten Medienkonzert einige Aufmerksamkeit, und so kübelte Big Brother seine eigene Starkategorie hervor: Zlatko, Jürgen, Manuela, Andrea wurden multipel verwertbare Helden und Dauergäste in den Wohnzimmern der Normalfamilien.

Das "Wirklichkeitsfernsehen" wurde ein weltweites Phänomen. Die Sender testeten, wie viel Big Brother die Zuschauer vertrugen, immer neue Spielarten entstanden. An der Spitze des Hypes 2003 spielte etwa ganz Afrika Big Brother mit zwölf Bewohnern aus zwölf verschiedenen Ländern. Im selben Jahr gab es in einer britischen Ausgabe Bombenalarm.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das abgenutzte Konzept von Big Brother heute ein breiteres Publikum interessiert, ist jedoch bescheiden. Dusch- und Sexszenen unter der Decke inklusive Schlagzeilen wie "Ganz Deutschland wettet – Wer schläft zuerst mit wem?" (Bild) befriedigten vielleicht vor 20 Jahren feuchtfröhliche Gafferträume. Die Distanzlosigkeit sozialer Medien ersetzt inzwischen den Reiz der Schlüssellochperspektive. Deshalb müssen Spielregeln her, die für Leben in der Bude sorgen, schließlich muss es knistern und krachen.

Die Wiederbelebung von Big Brother hat indirekt mit dem Streamingboom zu tun, der zu einer Segmentierung des Marktes führt. Wer Serien schaut, tut das vermehrt auf Plattformen, das "alte" Fernsehen setzt stärker auf Entertainment. Dort wird gesungen, getanzt, gekocht und um die Wette geturnt wie schon lange nicht mehr.

Feuchtfröhliche Gaffer

Dass die Verwertungsmaschinerie Fernsehen irgendwann wieder beim Sozialexperiment haltmachen würde, war absehbar. Diese haben im Fernsehen eine einschlägige Vergangenheit – so viel als Hinweis, was möglicherweise bevorsteht: Wie wäre es zum Beispiel mit einer Neuauflage von Drunk, einem norwegischen Experimentierformat, in dem sich die Kandidaten vor laufender Kamera betranken und so die Wirkung von Alkohol belegten? Oder mit Russian Roulette, in dem sich Kandidaten gegenseitig die Kugel gaben? Oder mit Married at First Sight, wo sechs tapfere Däninnen und Dänen beim ersten Treffen vor den Traualtar traten? Die Idee greift ausgerechnet die Streamingplattform Netflix demnächst in Liebe macht blind auf.

Das Motto dieser Staffel lautet übrigens "Was ist ein Mensch wert?". Dass über die Frage Mitbewohner und Zuschauer entscheiden, ist ethisch bedenklich und wäre diskussionswürdig. Irgendwie ist aber auch das wie Big Brother selbst: eine unnötige Provokation. (Doris Priesching, 10.2.2020)