Der Baron Ochs hat auch nichts gegen Frau Annina (Katharina Kammerloher) auf seinem Schoß.

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Den beiden Werkvätern Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist im Rosenkavalier ein ausgelassenes Spiel mit Epochen geglückt: Raffiniert in das süffige Klangbild implantierte harmonische Moderne wird von Richard Strauss in das walzerselige Wien des 19. Jahrhunderts gesandt. Dessen Dreivierteltaktcharme umgarnt allerdings die Machtphase von Kaiserin Maria Theresia. Also eine Zeitstrecke, die musikalisch noch von Barock und Vorklassik dominiert wurde.

Diese artifizielle, eigentlich postmoderne Stilmischkulanz (mit Hugo von Hofmannsthals kunstvoller Sprache verwoben) hat wiederum Regisseur André Heller in das späte Kriegsjahr 1917 verlegt. Angekündigt wird an der Staatsoper Unter den Linden – auf dem Vorhang riesig abgebildet – eine von Fürstin Marie von Thurn und Taxis organisierte Benefizaufführung des Rosenkavaliers "zugunsten des k. k. Kriegswitwen- und Waisenfonds".

Up To Date

Es entsteht jedoch kein Stück im Stück. Das Jahr 1917 dient dazu, sich den Moden jener Tage kunstvoll anzunähern. Heller imaginiert eine überfeine, von grässlicher Realität unbehelligte Gesellschaft herbei, die sich eine "Up to date"-Existenz leisten kann. Im Stadtpalais des Herrn Faninal ist denn auch Maler Gustav Klimt gern gesehener und bewunderter Star, an dessen Seite Modeschöpferin und Muse Emilie Flöge das prunkvolle Ambiente genießt.

Der erste Blick der Liebe

Klimts Beethovenfries bezeugt hier nicht nur die Absicht des Hausherrn Faninal, sich mit zugekaufter Kunstavantgarde Distinktion einzuverleiben (im goldigen Anzug: Roman Trekel). Der Fries ist auch stummer Zeuge eines misslingenden Ehegeschäfts, dem die juvenile Erste-Blick-Liebe zwischen Sophie und Octavian in die Quere kommt. Wie aus dem Kriegsjahr 1917 gefallen, erscheint Octavian (kraftvoll, quirlig: Michele Losier) im überkandidelten Rokoko-Gewand, um die Silberrose zu überreichen. Die Inszenierung spielt also auch mit Epochen, aber nicht nur: Ein entfesselter Octavian kippt aus der noblen Rolle, verletzt Baron Ochs an der linken Schulter. Alles Tumult.

"Opfer" Ochs ist beim grandiosen Günther Groissböck ein ungehobelter Rüpel mit vitalem Charme. Als Mischkulanz aus Falstaff und Don Giovanni gibt er einen blasierten Aristobauern, der Herablassung als Waffe einsetzt. Der Lackaffe entpuppt sich jedoch als Fassade aus Arroganz und Eitelkeit, die nach und nach an der Realität zerschellt, um schließlich doch wieder etwas Würde zu erlangen. Die Figur vereint in dieser Inszenierung jedenfalls situative Dichte und Feinheit der Figurengestaltung.

Poetische Höhepunkte

Heller (Mitarbeit bei der Regie: Wolfgang Schilly) erzählt vor allem im ersten Akt detailvoll lebendig: Der Weg der noblen Marschallin von horizontalen Freuden (mit dem jungen Geliebten Octavian) zur obligaten morgendlichen Frisurgestaltung gelingt als leichtfüßiges Kammerspiel. Nachdem sodann alle Bittsteller in einer zirkusartigen Szene ihre Anliegen vorgebracht haben – unter anderem Atalla Ayan als sehr solider Tenor –, wird die melancholische Reflexion der Marschallin aber zum poetischen Höhepunkt. Camilla Nylunds Sopran betört dabei durch Strahlkraft und innigen Ausdruck. Und tut dies auch im Finale.

Rückgrat des Abends

Essenziell: Ihr Staunen über Zeit und Endlichkeit trägt das Orchester unter Altmeister Zubin Mehta in eine Sphäre des atmosphärisch Tiefsinnigen. Die Klangopulenz verwandelt sich bei Bedarf in markante orchestrale Rufzeichen, mit denen Strauss die Charaktere umschwirrt, leitmotivisch definiert und Szenen kommentiert. Mehta und Orchester erweisen sich als Rückgrat der Aufführung, der aber leider die Puste ausgeht. Es landet Octavian (als Mäderl verkleidet) wie vorgesehen mit dem gockelhaften Ochs in einem Palmenhaus, das sich – orientalisch "bezeltet" – als Schauplatz einer Angstlektion präsentiert.

All die auf die Wände projizierten Gruselspinnen und sonstigen Spukgeschöpfe wirken jedoch unentschlossen. Es fehlt auch dieses finale Tempo des Tumults, nach dem die Marschallin mit Octavian und Sophie (grandiose lyrische Qualitäten: Nadine Sierra) in einer intimen Entscheidungssituation landet. Ja, der Junge entscheidet sich für die Junge, die ältere Dame lässt (vorläufig) los.

Fast ein Liederabend

Die Art und Weise, wie das Trio agiert, lässt jedoch mehr an einen Liederabend als an eine durchgestaltete Szene denken. Da halfen auch die ideenreichen Kostüme von Arthur Arbesser nicht mehr, die sich zuvor so schillernd mit den geschmackvollen Bühnenbildideen von Xenia Hausner verschmolzen hatten. Es gab jedenfalls reichlich Applaus. Ein Teil des Publikums jedoch wollte in die Begeisterung über die Regie nicht einstimmen und buhte Heller aus. (Ljubiša Tošić, 10.2.2020)