Im Gastkommentar beleuchtet der Historiker Dieter Reinisch den historischen Sieg bei den Parlamentswahlen, der die Beziehungen der Republik Irland mit Großbritannien verschlechtern wird.

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Sinn Féin ist die älteste irische Partei, galt lange als politischer Arm der IRA und stellt nun den Regierungsanspruch. Ihre Unterstützer, wie hier in Cork, jubeln.
Foto: REUTERS/Henry Nicholls

In den Jahrzehnten des Nordirlandkonflikts konnte die republikanische Partei Sinn Féin nicht in den irischen Medien gehört werden. Section 31 des irischen Rundfunkgesetzes verbat es dem Staatssender RTÉ ab 1971, Sinn Féin oder andere mit ihr oder der IRA assoziierte Personen sprechen zu lassen. Erst am 19. Jänner 1994 endete die Zensur, ein Zugeständnis an die Republikaner, acht Monate vor dem Waffenstillstand der IRA.

Rund 25 Jahre später sind Sinn Féin und ihre Parteivorsitzende Mary Lou McDonald in allen Medien präsent. Bei den Wahlen zum irischen Parlament, Dáil Éireann, wurde sie nun mit 24,5 Prozent der First-Preference-Votes stimmenstärkste Partei – ein politisches Erdbeben in einem Land, das seit dem Bürgerkrieg 1923 abwechselnd von den beiden konservativen Mitte-rechts-Parteien Fianna Fáil und Fine Gael geführt wird. Es ist das beste Ergebnis für Sinn Féin seit 1923, damals errang die Partei 27,4 Prozent und 44 Sitze. Nach der Wahl vom Wochenende könnte sie auf bis zu 40 Sitze kommen.

Niederlage für Varadkar

Über viele Jahrzehnte errangen die beiden Großparteien Fianna Fáil und Fine Gael gemeinsam knapp 80 Prozent der Stimmen. Nun liegen sie bei 43,1 Prozent. Die Partei des bisherigen Regierungschefs Leo Varadkar, Fine Gael, kam nur auf 20,9 Prozent. Die Wahlniederlage wird bei einem Blick auf seinen Wahlkreis deutlich. In Dublin West erhielt Varadkar nur 19,4 Prozent, während der Sinn-Féin-Kandidat Paul Donnelly auf 28,6 Prozent kam. Varadkar wurde erst nach der fünften Auszählung gewählt. Es ist das schlechteste Ergebnis, das ein Regierungschef jemals in seinem Wahlkreis erhielt.

Sinn Féin ist der politische Arm der immer noch existierenden, aber inaktiven IRA. In den Wochen vor den Wahlen versuchten die Medien und die politischen Mitbewerber Sinn Féin in Verbindung mit den Aktivitäten der IRA während des Nordirlandkonflikts zu bringen, um so den Wahlsieg zu verhindern. Dies gelang ihnen nicht. Einerseits ist die IRA seit zwei Jahrzehnten militärisch kaum aktiv und Sinn Féin überzeugte Unterstützerin des Friedensprozesses. Sie positionierte sich als proeuropäische Mitte-links-Partei, die für eine Wiedervereinigung Irlands eintritt. Dafür gibt es in der Republik eine klare Mehrheit. Andererseits entstanden auch die anderen beiden Großparteien aus Flügeln der IRA. Die Unabhängigkeit Irlands wurde durch einen blutigen Krieg gegen die britische Kolonialmacht 1921 errungen. Wie in vielen ehemaligen Kolonien war die Waffe ein stets präsenter Bestandteil des politischen Lebens.

Unsoziale Politik

Die zentralen Themen des Wahlkampfs waren das schlechte Gesundheits- und Sozialsystem und die Wohnungsnot. In Dublin sind die Mietpreise höher als in London. Zehntausende Menschen sind obdachlos, sozialen Wohnbau gibt es kaum.

Irland war das erste Land, das unter den EU-Rettungsschirm gestellt wurde. Innerhalb der EU galt es dank der wirtschaftlichen Erholung als Musterschüler. Doch die wirtschaftliche Konsolidierung führte zu einer sozialen Spaltung der Gesellschaft. Großkonzerne mit Sitz in Irland, wie Apple, Google und Hewlett-Packard, zahlen nahezu keine Steuern, während niedrige Einkommen mit 34 Prozent besteuert werden. Gegen diese unsoziale Politik regt sich zunehmend Widerstand. Erst vergangene Woche demonstrierten 30.000 Lehrer und Kinderbetreuer gegen die Sparpolitik der Regierung.

An den Urnen wurden die Parteien, die während der Jahre der Sparpolitik in der Regierung waren, Fianna Fáil, Fine Gael und Labour, abgestraft. Labour rutsche gar auf 4,4 Prozent. Nachwahlbefragungen ergaben, dass die Situation im Gesundheitswesen und die Wohnungsnot die entscheiden Wahlmotive waren.

Schwierige Regierungsbildung

In allen Altersklassen außer den über 65-Jährigen ist Sinn Féin die stärkste Partei. Vor allem bei den Jungen ist die Unterstützung groß, bei den unter 34-Jährigen liegt sie bei etwa 32 Prozent.

Die Regierungsbildung dürfte schwierig werden. Fine Gael und Fianna Fáil lehnen ab, mit Sinn Féin in eine Regierung zu gehen. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent empfindet die Ausgrenzung als falsch. Neuwahlen im Laufe des Jahres sind nicht ausgeschlossen. Diese könnte Sinn Féin aber weitere Stimmenzuwächse bescheren. Ein Risiko, das die beiden Großparteien wohl nicht eingehen wollen – und so könnte Irland einer rechtskonservativen großen Koalition zusteuern.

Doch ebenso nicht auszuschließen ist, dass Fianna Fáil ihre Ausgrenzungspolitik gegenüber Sinn Féin aufgibt. Es wäre wohl die letzte Möglichkeit für Parteichef Micheál Martin, Premierminister, Taoiseach, zu werden. Um den Abgeordneten Éamon Ó Cuív, Enkelsohn des langjährigen irischen Präsidenten und Parteigründers Éamon de Valera, gibt es Fürsprecher für eine Koalition mit Sinn Féin.

Größte nationalistische Partei

Aber auch wenn Sinn Féin nicht Teil der neuen Regierung wird, ist sie nun die stimmenstärkste Partei in der Republik und die größte nationalistische Partei in Nordirland. In Belfast ist sie Teil der Regierung.

Sinn Féin hat im Wahlkampf angekündigt, innerhalb von fünf Jahren eine Abstimmung über die irische Wiedervereinigung durchzuführen. In der Republik gibt es dafür eine Mehrheit. In Nachwahlbefragungen wollen 75 Prozent der unter 24-Jährigen eine derartige Abstimmung. Eine neue Regierung wird sich diesem Wunsch nicht verschließen können. Nur so könnte Sinn Féin der Wind aus den Segeln genommen werden. Mit dem Wahlsieg von Sinn Féin werden sich die Beziehungen der Republik Irland mit Großbritannien jedenfalls verschlechtern.

Als Sinn Féin 1918 die stärkste Partei Irlands wurde, rief sie die Unabhängigkeit aus, und es kam zum Krieg. Sinn Féin des Jahres 2020 ist eine andere Partei als damals, sie ist in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Damit ist der Krieg der IRA endgültig zu Ende.(Dieter Reinisch, 11.2.2020)