Wulf Haubensak versucht die Empfindungswelt auch auf Basis der Neuronen zu beschreiben.

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"Der Mensch hat ein jahrtausendealtes Bedürfnis, sich selbst erklären zu wollen", sagt Wulf Haubensak. Der Biochemiker vom Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien hat sich schon während seines Studiums in die Chemie der Nervenzellen vertieft.

Zu Beginn untersuchte er einzelne Synapsen, während der Dissertation folgte der Schritt zu kleinen Nervennetzen in der Kulturschale. Heute forscht Haubensak am vollständigen Organ, am Gehirn von Mäusen und Menschen. Was ist unser emotionales Selbst? Was unterscheidet uns von anderen Lebewesen auf diesem Planeten?

Lange waren solche Fragen der Philosophie vorbehalten. Mithilfe bildgebender Methoden gibt es heute die Möglichkeit, die Empfindungswelt auch auf Ebene der Neuronen zu beschreiben und am Computer jene Aktivitätsmuster herauszufiltern, die Emotionen entsprechen.

"Der Geist in der Maschine", wie es der britische Philosoph Gilbert Ryle formulierte, wird transparent – so gesehen sind Haubensaks Versuche mehr als nur Neurobiologie, sie klären Grundfragen der menschlichen Existenz.

STANDARD: Wir wissen alle, wie sich Furcht und Freude anfühlen. Was passiert dabei im menschlichen Gehirn?

Haubensak: Ich würde die Frage gern umformulieren: Warum fühlt sich ein Furchtstimulus anders an als zum Beispiel die erfolgreiche Lösung einer Mathematikaufgabe?

STANDARD: Wie lautet Ihre Antwort?

Haubensak: Bei Emotionen schwingt immer ein Bauchgefühl mit. Dieses Gefühl färbt unsere Gedanken und Sinneseindrücke, das ist messbar. Das heißt: Die Erregungszustände von Nervennetzen sind an angenehme oder unangenehme körperliche Zustände gekoppelt. Das ist der Grund dafür, dass sich Furcht anders anfühlt als mathematische Denkaufgaben.

STANDARD: Ähnliche Fragen hat sich schon der russische Physiologe Iwan Pawlow vor 100 Jahren gestellt. Seit Pawlow wissen wir, dass das Gehirn Reize miteinander verknüpfen kann und dass auch Gefühle Teil von Lernvorgängen sind. Sehen Sie sich in dieser Forschungstradition?

Haubensak: Was wir hier machen, ist im Grunde Pawlow 2.0. Die Fragen sind die gleichen, nur können wir im Gegensatz zu Pawlow heute ins Gehirn von Versuchstieren schauen: Wir versuchen herauszufinden, welche Nervennetzwerke für die Entstehung von Emotionen verantwortlich sind – und was die Neuronen dabei tun beziehungsweise welche Algorithmen dabei ablaufen. Wir können also fragen: Inwiefern unterscheiden sich Furcht und Belohnung, wie unterscheidet sich hier der Informationsfluss im Gehirn?

STANDARD: Wie machen Sie diese Vorgänge im Gehirn sichtbar?

Haubensak: Im Prinzip machen wir das auf zwei Arten: zum einen mit bildgebenden Methoden wie zum Beispiel Magnetresonanztomografie; zum anderen können wir mit ganz feinen Elektronen die Hirnströme auch direkt an der Nervenzelle messen. Wir machen das an Mäusen, aber solche Methoden werden, nicht von uns, auch am Menschen eingesetzt: Wenn Mediziner einen Hirntumor entfernen, dann untersuchen sie das Hirngewebe ebenfalls mit Elektroden. Mit diesen Daten können wir jedenfalls die Netzwerke der Neuronen kartieren. Und wir können uns auch die Frage stellen: Welche Gene sind in diesen Netzwerken aktiv?

STANDARD: Könnten Sie anhand eines Erregungsmusters erkennen, welche Empfindungen im Gehirn entstehen – zum Beispiel beim Essen oder beim Sex?

Haubensak: Gute und schlechte Empfindungen können wir schon sehr gut unterscheiden. An der feineren Auflösung des emotionalen Spektrums – etwa Belohnungen wie Essen oder Sex – wird gerade intensiv geforscht. Bisher lässt sich sagen: In beiden Fällen sind ähnliche Netzwerke im Gehirn aktiv. Sie überschneiden sich, aber sie sind nicht ident.

STANDARD: Kann man von Versuchen an der Maus auf den Menschen schließen?

Haubensak: Zum Großteil, ja. Natürlich ist das menschliche Gehirn zu komplexeren Leistungen fähig, unser emotionales Spektrum ist sicher auch reichhaltiger. Aber die Grundregeln sind sehr ähnlich, denn die Synapsen und Botenstoffe von Maus und Mensch unterscheiden sich nicht. Wenn man Mäusen angstlösende Medikamente gibt, reagiert sie recht ähnlich wie wir.

STANDARD: Was bedeutet das in Bezug auf medizinische Anwendungen?

Haubensak: Angstlöser wie zum Beispiel Benzodiazepine werden seit gut fünfzig Jahren verschrieben. Wir können uns jetzt die Frage stellen: Wie verändern diese Medikamente die lokalen Schaltkreise im Gehirn? Mit diesen Methoden verstehen wir auch besser, warum manche Patienten depressiv werden oder Süchte entwickeln. Was Therapien betrifft, sehe ich zwei Anwendungen: Langfristig könnten wir Wirkstoffe entwickeln, die viel spezifischer im Gehirn angreifen als heute verfügbare Substanzen. Eine andere Anwendung ist die sogenannte "deep brain stimulation". Wir könnten einzelne emotionale Hirnareale zu therapeutischen Zwecken stimulieren, bei Parkinsonpatienten funktioniert das schon recht gut.

STANDARD: Kann man mit der Genetik ableiten, wie das Gehirn eines Lebewesens aufgebaut ist?

Haubensak: An solchen Methoden arbeiten wir gerade. Das geht natürlich nur bedingt. Mit den vom Forschungszentrum VRVis entwickelten computergestützten Berechnungen kann man aber abschätzen, ob bestimmte Gene mit bestimmten Hirnfunktion zusammenhängen. Dazu suchen wir nach Verbindungen zwischen der Genetik und all den verfügbaren Daten über Nervennetze, wir nennen es das "Konnektom". Dieser Ansatz ist natürlich nicht nur interessant, um Unterschiede zwischen Maus und Mensch zu bestimmen, sondern auch in Bezug auf ausgestorbene Arten, wie zum Beispiel auf den Vormenschen "Lucy". Was ist in der Evolution des Gehirns zwischen "Lucy" und dem Menschen passiert? Das ist eine Frage, die ich gern beantworten möchte. (Robert Czepel, 17.2.2020)