Es ist kurz nach Sonnenaufgang und wir blicken von dem mit Kiefern gesäumten Felshügel über die wenigen Häuser unten am Seeufer, das durch den tiefen Schnee optisch nicht vom See zu trennen ist. Im Hintergrund leuchten die Berge der Heiligen Nase orangefarben durch die gerade aufgegangene Morgensonne. In der Erwartung des Frühstücks bei unseren Hosts Ludmilla und Andrej gehen wir auf der einzigen Straße in die Ansammlung von Holzhäusern hinein. Eisblumen wachsen an den Fensterscheiben. Angeblich genau dort, wo es durch das Fensterputzen zu feinen Kratzspuren gekommen ist und die Eisformen zu gewaltigen Eisbäumen wachsen können. An Eisvielfalt mangelt es am Baikalsee sicher nicht. Schon in Listwanka haben wir uns von den Eisskulpturen in kyrillischen Schriftzügen begeistern lassen, die einfach aus Seeeis geschnitzt waren. Sonst ist kein Leben zu erkennen.

Das verlassene Dorf an der Tschiwirkujski-Bucht.
Foto: Christoph Ruhsam
Eiskunst.
Foto: Christoph Ruhsam
Eisblumen wachsen dort wo es Kratzer im Glas gibt.
Foto: Christoph Ruhsam

Willkommen bei Ludmilla und Andrej!

Es stimmt also, dass Ludmilla und Andrej die letzten Verbliebenen im Ort sind. Allerdings ist ein Holzschuppen sichtlich beheizt – aus dem Rauchfang steigen blau-schwarze Rauchwolken auf – um Mensch und Maschine vor der beißenden Kälte zu schützen. Vermutlich Tagesgäste, die aus Ust-Bargusin kommen und ihre Ruhe suchen und dem Eislochfischen frönen. Vor Ludmillas und Andrejs Holzhütte tollen zwei Hunde herum. Sie bekommen in Blecheimern geschmolzenen Schnee zum Trinken. Wir werden durch den Eingang – eine einfache Spanplattentür – direkt in den einzigen Raum gebeten, der als Küchen-Ess-Schlafraum dient. Vor einigen Jahren ist den beiden ihr Holzhaus abgebrannt. Da sie keine Feuerversicherung hatten, mussten sie auf eigene Kosten ein neues errichten, an einem besseren Platz, nämlich hier. Unglaublich, was Menschen widerfahren kann und wie sie mit Kraft, Hoffnung und Bescheidenheit ein neues Leben beginnen.

Das Heim von Ludmilla und Andrej.
Foto: Christoph Ruhsam

Kein Vorzimmer dient zum Ablegen der Winterkleidung. Auf Nägeln an der Holzinnenwand hängen wir unsere Anoraks auf und ziehen die Winterstiefel aus. Mit blauem Stoff, vermutlich einem Schamanentuch, ist der Türrahmen rundherum gegen Zugluft abgedichtet. Das muss reichen. An der Unterkante der Türe bildete sich allerdings ein Spalt, der im Inneren einen Eiswulst entstehen ließ. Der Kachelofen steht im Zentrum des Raumes das zum Schlafbereich hin mit einem Vorhang etwas Privatsphäre schaffen lässt. Der Ofen wird rasch mit etwas Holz vom Lagerplatz vor dem Haus neu beladen, um die überhöhte Temperatur aufrecht erhalten zu können. Gute 50 Grad beträgt der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen.

Ein Raum für alles.
Foto: Christoph Ruhsam

Der Glaube blieb

Wir setzen uns rund um den roh gezimmerten Esstisch, der mit einem bunten Tischtuch geschützt ist, und bekommen Schwarztee, Pfannkuchen mit Marmelade, Haferbrei und ein weiches Ei serviert. Über dem Tisch im Eck wachen orthodoxe Heiligenikonen und eine Gottesmutter über uns, zusammen mit den Palmzweigen des letzten Osterfestes, die einen Gruß des Frühlings mitten im sibirischen Winter ausrichten. Der Glaube blieb Bestandteil des Lebens der Bevölkerung und ist ein Zeichen dafür, dass die kommunistische Zeit die Sehnsucht nach Gott nicht aus den Köpfen löschen konnte. In der Kirche von Chuschir mit ihrem allein stehenden Glockenturm erinnern Wandmalereien an die brutale Ermordung von Priestern durch die Bolschewiken nach der Übernahme der Macht ab 1917.

Russisches Frühstück.
Foto: Christoph Ruhsam
Orthodoxe Heiligenecke.
Foto: Christoph Ruhsam
Orthodoxe Kirche von Chuschir.
Foto: Christoph Ruhsam
Hinrichtung der orthodoxen Geistlichen durch die Bolschewiken.
Foto: Christoph Ruhsam

Sibirisches Heim

Der Rest des Hauses wirkt wie eine Sammlung von Alltagsgegenständen in einem Heimatmuseum, die nach Kategorien gruppiert entlang der Wand und auf roh gezimmerten Regalen verwahrt werden. Beim Esstisch steht eine Autobatterie mit chinesischer Aufschrift auf dem roh gezimmerten Fußboden. Über einen Wechselrichter erzeugt sie Strom für den darauf liegenden DVD-Player. Auch Energiesparlampen, direkt an die Decke genagelt, werden damit versorgt. Eine öffentliche Stromversorgung gibt es nicht. Die neuartigen Isolierglasfenster sind mit PU-Schaum fixiert, ohne dass man sich die Mühe einer Holzverkleidung gemacht hat. Durch sie wird der Raum völlig lichtdurchflutet.

Küchenecke.
Foto: Christoph Ruhsam

Blendend hell durch die Morgensonne gleißt der Schnee herein und bildet einen Kontrast zu der mit einer sibirischen Tigerdecke und einem Leopardenwandbehang geschmückten Schlafstätte. Die rohen Holzwände wirken gemütlich und sind praktisch und unkompliziert, wenn es um das Aufhängen von Bildern, Regalen und anderen Ziergegenständen geht. Vier gerahmte Bilder zeigen Fotos vom Baikal und der Familie mit ihren Kindern. Mehr Hausrat verbirgt sich vermutlich in einem durch einen Vorhang verdeckten Wandregal. Darauf liegen Christbaumkugeln in Originalverpackung, ein Winterhimmel aus einzelnen Sternen und einem Mond ist an die Wand genagelt. Im Kochbereich dominiert der Holzherd. Daneben gibt es eine spezielle Wasserspenderkonstruktion: Da es kein Fließwasser gibt, wird geschmolzener Schnee in einen Vorratsbehälter aus Plastik gegossen. Aus einem Zapfhahn kann Wasser in eine Schüssel darunter fließen und dem Abwasch genauso dienen wie der Körperpflege. Genauen Einblick darüber bekommen wir natürlich nicht.

Abwasch mit Schmelzwasserbehälter.
Foto: Christoph Ruhsam

Ein modern wirkender Gasherd mit vier Kochflächen wird ergänzend zum Holzherd genützt. Die Wand dient als Aufbewahrungsort für Holzkochlöffel, Pfannen und Kuchenbackformen. Einige Porzellanteller stehen in einem kleinen Holzregal, das neben dem Fenster an der Wand hängt. Was wir erst später zu sehen bekommen, ist das stille Örtchen, das einige Meter vom Haus entfernt im Garten steht und genauso aussieht, wie diese freistehenden Hütten überall aussehen. Das Besondere an diesem ist der kältebedingt in die Höhe stehende Exkrementehaufen. Ob er manchmal mit einer Hacke verkleinert werden muss, damit er nicht aus der Holzöffnung herauswächst? Mitten im Winter braucht man genügend Fantasie, um sich den Garten im Sommer als Selbstversorgergemüsegarten vorzustellen. Aber das kontinentale Klima am Baikalsee bedingt heiße Sommer. Im Winter bereichert Fisch, wie der Omul, den Speiseplan. Golomjanka-Ölfische bestehen gänzlich aus Fett und gehören zu den endemischen Arten des Baikalsees. Andrej hält uns zwei steif gefrorene Exemplare entgegen. Mit großen, runden Augen glotzen sie uns leblos an. Wir stellen uns vor, wie sie im Wasser lebendig waren und der Baikalrobbe als Futter dienten. Andrej wirft sie den Hunden hin.

Golomjanka-Ölfische.
Foto: Christoph Ruhsam
Wintermarsch mit Blick auf die Gebirge der Heiligen Nase.
Foto: Christoph Ruhsam
Verrostende Schiffswracks am Seeufer.
Foto: Christoph Ruhsam

Hinaus in die Kälte

Nach zwei Stunden ausgezeichnetem Frühstück steht die Sonne hoch am Himmel und wir machen uns für die Winterwanderung über die verschneite Bucht zur Insel Ostrow Lochmaty fertig. Wir beginnen von "kälteliebender Wärme" zu sprechen, als wir die überheizte Hütte verlassen und uns in voller Wintermontur der eisige Hauch bei minus zweiundzwanzig Grad entgegen schlägt, obwohl die Sonne am späten Vormittag schon einiges an Wärme ausgesendet hat. Es ist der kälteste Tag unserer Reise. In Chuschir auf der Insel Olchon erfuhren wir, wie die Eiseskälte die herbstliche Dünung um die Schiffswracks, die dort im Hafen liegen, einen Winter lang tief einfriert und festhält. Eis und rostiges Metall verbinden sich zu einer Symbiose. Selbst das Eis klingt bei diesen Temperaturen metallisch, wenn wir dagegen stoßen. Die meisten Menschen leben heutzutage in Städten, in geschützter und gesicherter Infrastruktur. Sie sehen dann auch nur mehr einen Teil des Himmels aus ihren Fenstern, oder gar keinen mehr. Dieser Blick beschränkt und entzieht dem Leben einen Teil seiner Essenzen. (Christoph Ruhsam, 14.2.2020)