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Roland Leitinger (im Bild) und Marco Schwarz sind derzeit Österreichs beste Riesentorläufer. Sie liegen mit jeweils 70 Punkten ex aequo an 17. Stelle der Disziplinenwertung.

Foto: AP Photo/Marco Trovati

Wien – Zwei Saisondrittel des alpinen Skiweltcups sind vorbei, und das Unaussprechliche droht einzutreffen. Das Team des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) liegt relativ abgehängt an zweiter Stelle, sodass es mit der Schweiz erstmals seit 1988/89 einen anderen Gewinner des Nationencups geben könnte als Österreich.

Dabei taten Österreichs Skisportler nach einigen Startschwierigkeiten auch in dieser Saison das, was man von ihnen erwartete. Sie lagen an der Spitze des Weltcups, bauten die Führung bis Weihnachten aus. Dann ließ ein Zwischentief die Schweizer aufschließen und nach einem kurzen Kopf-an-Kopf-Rennen um fast 300 Punkte davonziehen.

Die Trendwende kam nur nicht

Zum Abschluss des Kitzbühel-Wochenendes sprach ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel angesichts des wieder auf 80 Punkte geschmolzenen Vorsprungs von einer Trendwende. Die kam nur nicht. In den vergangenen drei Wochen bauten die Schweizer den Vorsprung neuerlich aus, diesmal auf gewaltige 670 Punkte.

Das war aber nicht nur das Verdienst von Schweizer Höchstleistungen, die ÖSV-Athleten trugen das Ihre dazu bei. Beim Riesenslalom in Garmisch etwa wurde Manuel Feller als bester Österreicher 28. und überwies historisch geringe drei Punkte auf das Nationenkonto.

Doch abgesehen von Einzelfällen: Lässt sich sagen, ob Punkte systematisch liegengelassen wurden, und wenn ja, wo?

Eine erste Trennscheide im alpinen Skiweltcup ist die Geschlechterwertung. Die österreichische Bilanz hält sich, anders als jene Italiens oder Norwegens, auf den ersten Blick die Waage. Die ÖSV-Herren holten bisher 3.296 Punkte, die Damen mit 3.226 Punkten nur unwesentlich weniger. Nahezu ein Fifty-fifty-Verhältnis, das nicht unbedeutend ist: Wie im echten Leben ist man im Nationencup dann am erfolgreichsten, wenn beide Geschlechter gleichermaßen zum Gelingen beitragen.

Allerdings berücksichtigt dieses schnöde Punkteaddieren nicht, dass die Herren bereits 31 Rennen absolviert haben, die Damen erst 26.

Misst man die Punkte pro Rennen, relativiert das die ausgewogene Zusammensetzung des österreichischen Punktekontos. Der Beitrag der Männer ist dann mit 46 Prozent deutlich niedriger als jener der Frauen und liegt auch klar unter ihrem 53-Prozent-Schnitt der zehn vorangegangenen Saisonen.

Schaut man auf die absolute Punktezahl, bestätigt sich der Verdacht des formschwachen Herrenteams. Auch die 124,1 Punkte je Damenrennen sind nicht unbedingt berühmt, in dieser Größenordnung bewegten sich die Österreicherinnen aber auch in den vergangenen Jahren immer wieder.

Die 106,3 Punkte pro Herrenrennen hingegen sind mit Abstand ein Tiefpunkt. 2017/18 und 2018/19 erlangten die ÖSV-Athleten noch das Anderthalbfache an Punkten pro Wettbewerb.

Gehen wir noch eine Stufe tiefer, zu den Disziplinen. In den Speedbewerben Abfahrt und Super-G erzielten die Herren vor allem in der ersten Hälfte des abgelaufenen Jahrzehnts zwar durchwegs bessere Ergebnisse als heuer. Die Resultate der laufenden Saison sind dennoch keine signifikanten Ausreißer nach unten.

Viel deutlicher wird, dass die Richtwerte in den Technikdisziplinen Slalom und Riesenslalom bei weitem nicht erreicht wurden. Die aktuellen 45,4 Punkte pro Riesentorlauf wurden in den 2010er-Jahren zum Teil um das Vierfache übertroffen, die 96 Punkte im Slalom fast um das Doppelte.

Es sind genau die beiden Disziplinen, die Marcel Hirscher bis zu seinem Rücktritt nach der letzten Saison dominierte. In jedem Riesentorlauf zwischen 2009/10 und 2018/19 holte Hirscher durchschnittlich 68,8 Punkte, in jedem Slalom 60,9 Punkte – und im Vorübergehen noch 7,1 Punkte in jedem Super-G und 18,1 Punkte pro sonstiges Rennen wie Kombination oder Parallelwettbewerb. Nur in der Abfahrt blieb der Salzburger punktelos.

Wagen wir also das Gedankenexperiment, Marcel Hirscher hätte seine Karriere im September noch nicht beendet. Unter der Annahme, er hätte die Punkte, die er im zehnjährigen Schnitt pro Bewerb gemacht hat, auch in den Rennen der laufenden Saison errungen, dann würde die Anfangsgrafik so (oder so ähnlich*) ausschauen:

Marcel Hirscher hätte in diesem Paralleluniversum bisher 1.001 Punkte gemacht und würde den Gesamtweltcup vor Aleksander Aamodt Kilde und Henrik Kristofferson anführen. Die Schweiz hätte Österreich in der Nationenwertung nach Anfang Dezember nicht mehr überholt. (Michael Matzenberger, 21.2.2020)