Große Lust, viele Fragen, viele Unbekannte: Im Blog "Stumbling on sexuality" werden viele Fragen beantwortet.

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Da ist Blue aus Panama. Die junge Frau wurde nie über Sex aufgeklärt. Weder von ihren Eltern noch von ihren Lehrern und Lehrerinnen. Dass Kondome wichtig zur Verhütung sind, erklärte ihr die Mutter ihres ersten Freundes. Was ein Orgasmus ist, erfuhr Blue erst im Alter von 19. Auch mit Luciano wurde nie offen über Sex gesprochen. Der Argentinier musste daher experimentieren – etwa in dem er sich Olivenöl auf den Penis schmierte und erkannte, dass sich das echt gut anfühlt, Salz hingegen keine so gute Idee ist. Er und seine Freunde masturbierten auch zusammen um zu schauen, ob ihre Körper ähnlich reagieren.

Die ersten sexuellen Erfahrungen, an die Momo aus Deutschland sich erinnert, sind ihre Doktorspiele: Das Spiel kannte sie von dem Mädchen, das neben ihrer Oma wohnte. Als sie das Spiel, dass daraus bestand mit Wattestäbchen die Vagina zu reinigen, mit ihrer besten Freundin wiederholte, schämte diese sich jedoch und verlangte, dass niemand erfahren dürfte, was sie beide da getan hatten. Das war der Moment, in dem Momo sich fragte: Habe ich etwas falsch gemacht?

Ohne Tabus

Die Geschichten von Blue, Luciano und Momo gehören zu einer ganzen Reihe von Erzählungen, die die 29-jährige Shauna Blackmon gesammelt und auf ihrem Blog "Stumbling on Sexuality" veröffentlicht hat. Gemeinsam ist ihnen vor allem eins: Sie alle drehen sich um Sex – besser gesagt, um die ersten sexuellen Erfahrungen sowie um die Art und Weise, wie mit Kindern und Jugendlichen über Sexualität gesprochen wird, oder wie in Blues und Lucianos Fall eben nicht gesprochen. Denn: "Unsere frühkindlichen Erfahrungen prägen unsere Entwicklung und machen uns zu dem Menschen, der wir heute sind", ist Blackmon überzeugt.

Ausschlaggebend für das Projekt war Blackmons eigene Erfahrung. Sie selbst ist in Kansas in den USA aufgewachsen und auch in ihre Familie wurde so gut wie nie über Sexualität gesprochen. In der Schule lernte Blackmon dann, dass Sex wie Kaugummi sei: "Wenn man jemandem seinen Kaugummi gibt, kaut diese Person ihn gern", erklärte ihre Lehrerin – ein benutztes Kaugummi wolle jedoch später niemand mehr haben. Ihre Eltern vermittelten Blackmon zudem das Gefühl, dass Sex etwas "Unreines" sei. Fühlte sie sich in der Pubertät dann doch zu einem Jungen hingezogen, schämte sie sich. "Bis heute arbeite ich daran, die Vorstellung, dass Sex etwas Schmutziges ist, aus meinem Kopf zu vertreiben", sagt Blackmon.

Erste Erfahrungen

Dabei geholfen hat der jungen Frau vor allem der Umzug nach Deutschland, genauer gesagt nach Berlin. Hier, fern ab von Kansas, weit weg von zuhause, fühlte Blackmon sich das erste Mal bereit, offen mit Menschen über Sex zu sprechen. Und je mehr sie darüber sprach, desto leichter viel es ihr. Bei den Gesprächen bemerkte die US-Amerikanerin jedoch, dass die meisten ihrer neuen Freunde zwar sehr offen über ihr aktuelles Liebesleben sprachen, erkundigte sie sich allerdings nach deren ersten sexuellen Erfahrungen, gerieten die meisten ins Stocken: In Bezug auf ihre frühe Sexualität herrschte also selbst bei den vermeintlich so aufgeklärten Großstädtern Scham. Das war die Geburtsstunde von "Stumbling on Sexuality". Denn gegen die Scham hilft Blackmon zufolge vor allem eins: Reden! "Wenn man ein Gespräch anfängt, merkt man, dass viele von uns die gleichen Dinge getan haben und dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen", schreibt sie auf ihrer Website.

Mit "Stumbling on Sexuality" reiht Blackmon sich ein in eine breite Bewegung junger Frauen, die Sex und Sexualität so zeigen wollen, wie sie sind: Wenn es gut läuft sehr schön, nicht immer perfekt, manchmal auch irritierend. Einen wichtigen Anstoß so offen über Sexualität zu sprechen, lieferte beispielsweise die Autorin und Regisseurin Lena Dunham. In ihrer HBO-Serie "Girls", die im Jahr 2012 startete, spielt Dunham selbst die Hauptrolle. Die teils autobiografisch Serie wurde ein riesiger Erfolg und zeigt: Brüste dürfen auch mal hängen, Slips am Hintern zwicken und Sex darf auch mal schlecht sein. Denn guter und erfüllender Sex, dass wird in "Girls" schnell klar, braucht Übung.

Alles Übungssache

Diese Ansicht vertritt auch die deutsche Journalistin Margarete Stokowski in ihrem Debüt "Untenrum frei". In dem Buch erzählt die 32-Jährige nicht nur, wie wichtig es ihr früher war als Mädchen wahrgenommen zu werden, sondern auch von ihrem unzulänglichem Aufklärungsunterricht. Obwohl heutzutage immer offener über Sex gesprochen wird, schreibt Stokowski, herrsche, wenn es dann tatsächlich zur Sache ginge, noch immer viel Gehemmtheit, Sprach- und Ahnungslosigkeit.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die sexuelle Aufklärung in der Schule. In Ländern wie Deutschland und Österreich wäre es vermutlich ein Skandal, würden Lehrer und Lehrerinnen ihren Schülerinnen erklären, Sex sei wie Kaugummi. Und dennoch: "Wird in der Klasse über Sex gesprochen und erklärt, was Penis und Vagina damit zu tun haben", berichtet die Gynäkologin Cornelia Friedrich, "geschieht das oft viel zu technisch und mit erhobenem Zeigefinger." Die Folge: Kinder und Jugendliche lernen zwar, wie sie Kondome richtig benutzen und sich sich vor ungewollten Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten schützen – was wichtig ist, betont Friedrich –, dabei komme allerdings oft zu kurz, dass Sex Spaß machen soll und es gerade am Anfang viel ums Ausprobieren und miteinander reden ginge. Auch die Frage "Was eigentlich Einvernehmlichkeit beim Sex bedeutet" werde in Schulen oft zu wenig thematisiert.

Druck durch Orgasmus

Gisela Gille, Ärztin und Autorin des Aufklärungsbuches "Mädchen fragen. Mädchenfragen" hat an der Sachlichkeit am Sexualkundeunterricht hingegen wenig auszusetzen. Sorge bereitet ihr allerdings die Tatsache, dass "guter Sex" in der Vorstellung vieler Jugendlicher immer häufiger mit dem Erleben eines Orgasmus und dem Ziel des "ekstatischen Koitus" gleichgesetzt werde. "Das kann Jugendliche leicht unter Druck setzten und auch überfordern", so Gille.

Der Ansicht ist auch Sexualtherapeutin Dorothea Perkusic: Bin ich als Mädchen noch liebenswert und toll, wenn ich nicht durch kurze Penetration oder einmal an die Brust gefasst zum Orgasmus komme? Was ist der Unterschied zwischen einem klitoralen und einem vaginalen Orgasmus? Ist mein Sperma eklig? All das seien Fragen, die viele Jugendliche – ebenso wie manche Erwachsene – sich nach wie vor nicht trauen zu stellen, meint Perkusic. "Umso wichtiger ist es, dass Schule, Eltern und die Medien Jungen und Mädchen ein facettenreiches Bild von Sexualität vermitteln".

Offen für alle

Bei Blackmon kommen daher nicht nur Hetero-, sondern auch Homo- und Bisexuelle zu Wort. Die einen kommen aus Deutschland, die anderen aus Frankreich, Australien oder den USA. Denn sexuelle Orientierung und Nationalität spielen bei "Stumbling on Sexuality" keine Rolle. Teil der Wahrheit ist beispielsweise auch, dass Selbstbefriedigung nicht immer so funktioniert, wie manche sich das vorstellen. Als Blackmon sich etwa das erste Mal unter der Dusche selbst befriedigte, war sie nicht nur unheimlich nervös, sondern am Ende auch unglaublich enttäuscht: "Ich dachte jetzt erlebe ich das große Feuerwerk", erinnert sie sich. Dann stand sie unter der Dusche, steckte sich einen Finger in die Vagina und wartete – doch nichts geschah. Von der Klitoris hatte Blackmon damals noch keine Ahnung. (Stella Hombach, 16.2.2020)