Inmitten einer unscheinbaren Wohngegend der Stadt Reading westlich von London sollen die IT-Experten und Ingenieure der Zukunft ausgebildet werden. Im digitalen Klassenzimmer.

Das öffentliche UTC Reading ist eine von hunderten Microsoft Showcase Schools in 57 Ländern. Das sind Schulen, die mit Microsoft kooperieren und von dem IT-Konzern ausgezeichnet wurden, weil sie eine besonders gute digitale Strategie für Unterricht und Lehrerausbildung haben sollen. Auch in Österreich sind einige Schulen Teil des Microsoft-Bildungsprogramms. Derzeit gibt es 16 sogenannte Microsoft-Schools und vier Showcase-Schools

IT-Konzerne wie Microsoft, Apple und Google drängen seit Jahren mit ihren Geräten und Programmen an Schulen. Vielerorts haben sie das bereits geschafft, weshalb sie nun viel mehr die Frage beschäftigt, wie Schüler und Lehrer ihre Tools bestmöglich im Unterricht einsetzen. Immerhin sagen in einer aktuellen, noch unveröffentlichten Umfrage des Economist für Microsoft nur 38 Prozent der befragten (Jung-)Lehrer, dass sie in ihrer Ausbildung ausreichend gelernt hatten, wie damit umzugehen ist. Den Lehrplan möchte man laut Microsoft nicht beeinflussen, aber mit Onlinekursen und Workshops inspirieren.

Komplexe Sachverhalte digital vermitteln

Mark Sparvell hat 30 Jahre als Lehrer und Schuldirektor in Australien gearbeitet und forscht nun bei Microsoft zu pädagogischen Fragen. "Wenn die Schüler den Inhalt genauso ohne Laptop erfassen können, sollten sie das auch tun." Es gehe nicht darum, Stift und Papier gegen Tastatur und Bildschirm einzutauschen, sondern digitale Tools dort einzusetzen, wo herkömmliche Methoden versagten.

Wie sollen Lehrer digitale Tools in der Klasse einsetzen? Das fragen sich auch IT-Konzerne wie Microsoft, um ihre unter die Schüler zu bringen.
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Gerade komplexe Sachverhalte ließen sich so einfach vermitteln, sagt Sparvell. In der Computersimulation eines Wasserkreislaufs könnten Schüler die Temperaturen verstellen und sehen, was dadurch in der echten Welt passieren würde. Das schaffe Sinn und eine Antwort auf die Frage: Wozu lerne ich das überhaupt?

Am UTC Reading nutzen alle rund 500 Schüler einen Laptop im Unterricht. Die Aufgaben machen die 14- bis 19-Jährigen über das cloudbasierte Office 365, zu Gruppenarbeiten oder Fächern chatten sie. In ihrer Freizeit können sie digitale Skills wie Software-Zertifikate erwerben oder selbstständig Programmiersprachen lernen.

Überhaupt geht es viel darum, dass sich die Schüler das Wissen auch selbst erarbeiten. Die Lehrer sehen online detailliert die Leistungen und die Mitarbeit ihrer Schüler – und sollen so auch möglichst individuell auf die einzelnen Bedürfnisse und Wissensstände eingehen können. Die Schülerdaten würden dabei nicht gesammelt werden, heißt es von Microsoft.

Lehrer würden nicht obsolet

Die Lehrer würden im digitalen Klassenzimmer nicht obsolet, sondern bekämen eine Coachingrolle, betont Sparvell. Das personalisierte Lernen durch die Analyse von Schülerdaten sieht er als großen Vorteil der Digitalisierung. Denn: Jeder könne so gefördert werden, wie er oder sie es brauche. "Niemand soll abgehängt werden." Konkret bedeutet das: Wer etwa eine Leseschwäche hat, kann mit Microsofts Tools Nomen als Bilder anzeigen, Wörter vergrößern oder vorlesen lassen. Und wer nicht die Unterrichtssprache spricht, kann sich das vom Lehrer Gesagte direkt in ein Dokument transkribieren und übersetzen lassen. "Das reduziert das Stigma, nicht gut zu sein. Die Schüler werden selbstbewusster, motivierter", sagt Sparvell und ergänzt: "Auch Erwachsene nutzen Übersetzungsapps, um im Ausland zu kommunizieren." Und Studien zeigten, dass Schüler von der Personalisierung profitieren, sagt er. Gerade jene, die anfangs weit zurücklagen, konnten aufholen.

Was sollen die Schüler laut Microsoft also lernen, um für die Arbeitswelt gut vorbereitet zu sein? Problemlösen, kritisches Denken, Kreativität und vor allem sozial-emotionale Skills wie der zwischenmenschliche Umgang, Zusammenarbeit, Selbstbewusstsein und -regulierung. In einer aktuellen Umfrage von McKinsey sagten rund 60 Prozent der US-Arbeitgeber und 54 Prozent der Jungen, dass Uniabsolventen nicht ausreichend auf die Arbeitswelt vorbereitet sind, besonders was letztere Skills angeht.

"Schreiben und rechnen zu können ist immer noch wichtig, aber ebenso, durch die tägliche Flut an Informationen und Ablenkungen navigieren zu können", sagt Sparvell. Und: seine Energie darauf zu fokussieren, wo sie am sinnvollsten eingesetzt sei. Für Letzteres werden jüngere Schüler künftig ihre Achtsamkeit im Lernspiel Minecraft trainieren.

Start-Up-Atmosphäre

Am UTC Reading ist auch die Architektur auf eigenständiges, projektbasiertes Lernen ausgelegt. Es gibt Zonen für Gruppenarbeiten, Ruheräume zum Lernen und einen "Wellnes Hub", wo sich gestresst fühlende Schüler auf Sitzsäcken entspannen können. Die Möbel sind bunt, die Atmosphäre erinnert an Start-ups. An den Wänden hängen Zitate von Elon Musk und Mark Zuckerberg.

Das passt zu Microsofts Bildungsbestrebungen, mit denen man die Schüler "auf eine neue Welt" vorbereiten wolle. Denn klar ist auch: Kinder und Jugendliche, die früh mit Software von Microsoft oder Laptops von Google und Apple in Kontakt kommen, bleiben den Konzernen als Kunden treu. Oder werden sogar künftige Mitarbeiter, die man womöglich so ausgebildet hat, wie man sie gern hätte. (Selina Thaler, 14.2.2020)