Auf den Boden gefallen oder einfach nur keinen Hunger? Diese Pizza wird wohl keinen Magen füllen.

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Was tun, wenn sich das Mittagessen auf den dreckigen Boden verirrt? Dreisekundenregel heißt im Volksmund die Antwort auf das im Alltag immer wiederkehrende Problem. Was nicht länger als drei Sekunden auf dem Boden liegt, darf man noch ohne Bedenken essen. Ausnahmen gibt es freilich zuhauf. Wenn der Hunger besonders drückt, darf die einzelne Sekunde ruhig deutlich länger dauern. Und wenn die Pizzaschnitte in den Hundehaufen fällt, ist sie wohl schon mit der ersten Berührung für immer verloren. Ab in den Mistkübel damit.

Dass das Mittagessen aus der Hand rutscht, kommt vor. Aber um letztendlich im Mistkübel zu landen, nehmen längst nicht alle genießbaren Lebensmittel einen mindestens dreisekündigen Umweg über den Boden. Vieles wandert direkt in den Eimer, und das, obwohl es noch genießbar ist. Von allen Lebensmittelabfällen in der EU fällt beispielsweise mehr als die Hälfte in Privathaushalten an.

Podcast: Wieso wir so viele Lebensmittel wegschmeißen und was wir dagegen tun können.

Mehr Food-Waste als gedacht

Eine neue Studie, die am Mittwoch im Fachblatt "Plos One" erschienen ist, kommt nun zum Schluss, dass Haushalte weltweit sogar weit mehr Lebensmittel wegschmeißen, als bisher angenommen – und zwar um mehr als das Doppelte. Der wichtigste Indikator für sogenannten Food-Waste müsse demnach für das Jahr 2005 beispielsweise von 214 Kilokalorien pro Tag und Kopf auf 527 Kilokalorien korrigiert werden. Übersetzt in eine lebensnahe Einheit: Das macht einen "Hamburger Royal Käse" pro Tag und Kopf.

Eine Initiative in Bolivien bekämpft Hunger und verteilt gesicherte Lebensmittel aus Supermärkten.
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Zudem beobachteten die Autoren einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und der Menge an Lebensmittelabfällen: je reicher ein Haushalt, desto größer die Menge an weggeschmissenen Lebensmitteln.

Reiche Staaten in Verantwortung

Nun heißt das nicht, dass auch Österreicher zwangsläufig doppelt so viel wegwerfen wie vermutet. Die Studie entwirft vielmehr eine Schätzung für Länder, in denen die Datenlage löchrig ist. "Aber die Studie verweist auf die besondere Verantwortung der reichen Staaten für die Reduktion von Food-Waste", sagt Achim Spiller, Agrarökonom an der Universität Göttingen.

Dass Lebensmittelverschwendung im reichen Österreich längst kein Nischenthema mehr ist, verrät ein Blick ins türkis-grüne Regierungsprogramm. Dieses sieht einen Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung über die gesamte Wertschöpfungskette vor. Konkret liegt der Fokus allerdings weniger auf Verbrauchern als auf Handelsunternehmen.

So sieht das Koalitionsabkommen etwa ein Verbot des Wegwerfens von genusstauglichen Lebensmitteln vor. Dabei bezieht sich Türkis-Grün auf das Vorbild Frankreich, wo ein solches Verbot bereits gilt. Genussfähige Lebensmittel sollen beispielsweise sozialen Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden.

Querschnittsmaterie

Bei der Österreichischen Wirtschaftskammer (WKO) hält man von einem Wegwerfverbot für den Handel wenig. Man sieht sich vielmehr durch die neue Studie bestätigt. "Die Lebensmittelverschwendung ist im Privaten weitaus höher", sagt Iris Thalbauer, die die Sparte Handel bei der WKO leitet. Es gehe darum, die Menschen für die Thematik zu sensibilisieren. Eine "breitangelegte Kampagne" könne sie sich etwa vorstellen.

In Deutschland hat Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner eine Initiative gegen Lebensmittelverschwendung gestartet.
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Das französische Vorbild eines Wegwerfverbots für den Handel würde nicht taugen, mahnt Thalbauer. Zwar würde es auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, Händler in die Pflicht zu nehmen, noch genussfähige Lebensmittel an karitative Einrichtungen weiterzugeben, sobald sie dauerhaft aus den Regalen genommen werden.

Ineffiziente Maßnahmen

In der Umsetzung in Frankreich habe sich die Maßnahme aber als ineffizient und kontraproduktiv herausgestellt. Es fehle die Transport- und Lagerinfrastruktur. In der Praxis könne die Qualität vieler Spenden nicht garantiert werden, gibt die Expertin zu bedenken. Außerdem würden viele Händler bereits freiwillig mit Sozialeinrichtungen kooperieren.

Gewessler am Zug

Im Klimaschutzministerium der Grünen Leonore Gewessler verweist man in Sachen Lebensmittelverschwendung auf die Breite der Thematik. "Es handelt sich um eine sehr intensive Querschnittsmaterie", sagt ein Sprecher. Es gehe um Abfallverwertung, Kreislaufwirtschaft, Produktionsprozesse und auch Gesundheit.

Das Klimaschutzressort nehme die Vermeidung von Lebensmittelabfällen jedenfalls sehr ernst. "Es gibt einen jährlichen Stakeholderdialog zum Thema, und 2019 wurde das Aktionsprogramm – Maßnahmen zur nachhaltigen Verringerung von Lebensmittelabfällen evaluiert und aktualisiert", heißt es.

Information wichtig

Was die Lebensmittelabfälle in Privathaushalten betrifft, decken sich die Vorstellungen im Klimaschutzministerium in etwa mit denen der Wirtschaftskammer. Ein Sprecher des Klimaschutzministeriums: "Hier ist die laufende Information und Bewusstseinsbildung ein wichtiger Ansatzpunkt. Dazu gibt es vonseiten des Ministeriums unter anderem im Bereich der Bildung einen Fokus, hier werden laufend Pädagoginnen und Pädagogen zu dieser Thematik sensibilisiert."

Dass die Politik auf Sensibilisierung setzt, hat letztlich auch damit zu tun, dass es laut Experten weltweit wenige gute Schätzungen darüber gibt, wie viele Lebensmittel tatsächlich im Mülleimer landen. Um belastbare Zahlen zu erhalten, muss man sich schon durch den Restmüll von Haushalten wühlen. Nur so kann geprüft werden, ob die neue Studie letztlich richtig liegt oder die weltweite Lebensmittelverschwendung doch über- oder unterschätzt.

Im Müll gewühlt

Genau das haben die Autoren einer großangelegten Müllanalyse des Landes Salzburg gemacht. Auch sie fanden heraus, dass immer mehr Lebensmittel in der Tonne landen. Demnach sind in Salzburg 16 Prozent der Abfälle im Restmüll vermeidbare Lebensmittelabfälle – immerhin 27 Kilogramm pro Einwohner und Jahr. Entsorgungen in der Biotonne sind da nicht mitgerechnet.

Laut älteren Zahlen produzieren Österreichs Haushalte 157.000 Tonnen vermeidbare Lebensmittelabfälle im Jahr. Das sind 19 Kilo pro Jahr und Nase. (Aloysius Widmann, 13.2.2020)