Grüne Ministerin Gewessler, türkises Gegenüber Blümel: Wer hat in der Europapolitik das Sagen?

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Erst Seenotrettung und EU-Budget, nun die Schuldenfrage: ÖVP und Grüne sind in der Europapolitik vielfach nicht auf einer Linie. Jüngster Anlass ist eine in Brüssel heißumstrittene Frage. Sollen die Budgetregeln der Union gelockert werden, um üppigere Investitionen in den Klimaschutz zu ermöglichen?

Derzeit setzt der Stabilitäts- und Wachstumspakt der Spendierfreudigkeit der Mitgliedsstaaten Grenzen. Zum Sammelsurium der Vorschriften und Mechanismen zählen etwa die Regeln, dass die Schuldenquote maximal 60 Prozent und das strukturelle Defizit – Konjunkturschwankungen herausgerechnet – nicht mehr als 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen sollen. Dieses enge Korsett, sagen Kritiker, hindere die Staaten, genug Geld in öffentlichen Verkehr oder moderne Technologien zu stecken.

Ruf nach grüner Regel

In der EU-Kommission stößt diese Argumentation auf Verständnis. Einen konkreten Plan gibt es noch nicht, aber immerhin Überlegungen, das Regime zu lockern. Stabilität bleibe ein zentrales Ziel, sagt Kommissar Paolo Gentiloni, "aber genauso dringend ist, die immensen Investitionen im Kampf gegen den Klimawandel zu mobilisieren". Eine Möglichkeit böte eine sogenannte goldene oder grüne Regel: Öko-Investitionen wären per se von den Limits ausgenommen. Dank niedriger Zinsen könnten gerade Länder wie Österreich auf Pump billiges Geld flüssig machen.

Der Ausbau des Bahnnetzes wäre eine Umweltinvestition, die man aus dem Defizit herausrechnen könnte.
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Doch davon will der heimische Finanzminister nichts wissen. Wie das Magazin Politico berichtet, trafen sich in Wien bereits Mitte Jänner Vertreter von zwölf EU-Staaten, um sich gegen den Plan zu verabreden. Ende des Monats preschte dann Ressortchef Gernot Blümel in einem Interview mit der Welt vor. Er sei für das komplette Gegenteil, ließ der ÖVP-Politiker wissen: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gehöre verschärft, weil sich die Eurostaaten nicht daran gehalten hätten. Statt neuer Ausnahmen brauche es strengere Sanktionen.

Der Koalitionspartner findet sich in dieser Festlegung kein bisschen wieder. "Natürlich sind die Grünen für den Vorschlag, die Schulden- und Defizitregeln zu lockern", sagt Europasprecher Michel Reimon: "Klimaschutz braucht in den nächsten zehn Jahren massive Investitionen, und die dürfen nicht in ein etwaiges Nulldefizit reingerechnet werden. Dieses kann nur für den Rest des Budgets gelten. So steht’s auch im Regierungsprogramm, und so werden wir das machen."

Goldene Investitionsregel

"Eine goldene Investitionsregel wäre sehr sinnvoll", schließt sich der Abgeordnete Markus Koza an, der eine solche – wie auch die Arbeiterkammer – am liebsten nicht nur auf den Klimaschutz anwenden würde, sondern auch auf andere Bereiche wie die Bildung. Bei der Kritik am Schuldenmachen werde übersehen, dass damit ja Werte für die künftigen Generationen geschaffen würden, argumentiert er – eben eine intakte Umwelt oder taugliche Schulen.

Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) wollte auf STANDARD-Anfrage auf die konkrete Causa nicht eingehen, hält aber allgemein fest: "Wir haben uns in den Regierungsverhandlungen in Österreich dazu bekannt, dass die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen jedenfalls sichergestellt ist." Tatsächlich stellt der türkis-grüne Pakt das Nulldefizit nicht nur unter Konjunkturvorbehalt. Festgeschrieben ist auch, dass die "notwendigen" Klima- und Zukunftsinvestitionen "unabhängig" vom Ziel des Schuldenabbaus sichergestellt werden müssen. Fragt sich halt nur, was die Koalitionsparteien jeweils unter "notwendig" verstehen.

Hinter den Kulissen versuchen die Grünen eine gemeinsame Linie mit der ÖVP zu finden. Ob das fruchtet, könnte sich bereits am Montag zeigen, wenn Blümel Österreich beim Treffen der Eurogruppe vertritt. Dabei soll es auch um die Budgetregeln gehen.

Atomkraft als Klimaschoner

Abgesehen davon, dass "keine neuen Schulden" zu den zentralen Slogans der ÖVP zählt, gibt es im Finanzministerium auch sachliche Einwände. Was als Öko-Investition gilt, werde sich nie scharf eingrenzen lassen, sodass die Schuldenlimits wohl völlig aufgeweicht würden, so eine Befürchtung aus dem Ressort: "Am Ende kann jedes Land so viel ausgeben, wie es will, wofür es will."

Die Abgrenzung bereitet auch auf EU-Ebene Kopfzerbrechen. Schließlich kategorisieren manche Mitgliedsstaaten Ausgaben als klimaschonend, weil Co2-arm, die hierzulande verpönt sind: den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken. (Gerald John, 17.2.2020)