Heinz Strunk, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler, 1962 in Hamburg geboren. "Fleisch ist mein Gemüse" hieß sein erster Roman. "Der goldene Handschuh" stand monatelang auf den Bestsellerlisten.

Foto: Rowohlt / Dennis Dirksen

Das, was die Bücher Heinz Strunks so auszeichnet und auch großartig macht, ist das Unvorhersehbare in scheinbarer Vorhersehbarkeit, das heißt, man kennt seinen Sound, seinen Witz, seine Handschrift, seine Themen, seine Wiederholungen, seine Aversionen und Obsessionen, es wächst und wuchert, auch den Subtext kann man inzwischen lesen, in all seinen Büchern, aber dennoch hat er offenbar eine große Freude und einen ameisenartigen Fleiß, immer wieder und immer weiter ein neues Buch, eine neue Blickrichtung auf sein Leben, eine neue Facette seines Lebens abzubilden.

Er, der erst relativ spät begonnen hat, zu schreiben und verlegt zu werden, musste zunächst in Fleisch ist mein Gemüse das Dringlichste erklären, wer er ist, woher er kommt, was ihn antreibt, wo er steckengeblieben wäre, die Schreckensmühle des Tanzbodenmusikers mit einer manischen Glücksspielobsession und einer lebensmüden Mutter, um dann in den Folgebüchern sein Leben in die Verästelungen seiner seelischen Kapillaren zu verfolgen und zu ergründen, im Fleckenteufel das manische, dreckige Triebwesen, in Junge rettet Freund aus Teich seine schon leicht bedrohte Kindheit, in der Zunge Europas, wie man Geld verdienen und irgendwo ankommen könnte, wo es ruhig wird, um dann über Nebenschauplätze wie im Goldenen Handschuh Milieus aufzusuchen, die noch viel bedrohlicher sind als all das, an dem er durch seine Disziplin, durch Visionen, Halsstarrigkeit, durch Glück vielleicht auch, auch einen guten Lektor zu haben, noch vorbeigeschrammt ist, der Subtext im Handschuh ist also auch die Erleichterung darüber, all den Horror nur von außen beschreiben zu können, und nicht in ihm untergegangen zu sein.

Die Ekelfaszination des Erzählers

Und selbst in der rein fiktionalen Vignettensammlung Das Teemännchen steht der Schrecken neben dem resignativ Banalen und dem Stupor des Normalen, und aus der Stimme des Erzählers liest man die Ekelfaszination, die seltsam verdrehte Empathie mit dem Scheitern anderer, mit deren Verzweiflung, niemals irgendwo anzukommen, auf der einen Seite und auf der anderen eben die Erleichterung, nicht selbst drinzustecken und stattdessen eine nachgerade kubistische Fantasie zu haben, mit der er alles machen kann, um sich nicht selbst zu beschädigen.

Und da ist er Franz Kafka nicht unähnlich, die ständige Bedrohung durch das Leben zu bannen versuchen, indem man noch viel schauerlichere Nebenschauplätze entwickelt, die aber ebenfalls durch einen Subtext doppelt konnotiert und je nach Lust des Rezipienten zum Gruseln oder zum Lachen sind. Und erwiesenermaßen hat Kafka mehr über seine Geschichten gelacht, als es nachfolgende Exegetenarmeen wahrhaben wollten. Er musste lachen, um sich davor zu schützen unterzugehen.

In Strunks neuestem Buch Nach Notat zu Bett schafft er eine neue Sicht auf sich, auf sich im Kontext seines, oder eines semifiktionalen, Alltags, das Genre könnte man "Unzuverlässiges Tagebuch" nennen, es versammelt ganz unhierarchisch nebeneinander all das, was ihn so umtreibt, die Sorgen, sich nicht genug zu bewegen, was man essen könnte, was man im Fernsehen so sieht und wegsieht, die Fassungslosigkeit angesichts all der Sozialgeräusche der Gesellschaft (Bares für Rares), er, oder ein fiktionalisiertes Er, führt ein streng strukturiertes Leben, in dem er buchhalterisch alles protokolliert, auch die täglichen Rituale, die Liegestütze und den Tee, um vielleicht gewappnet für die tagtäglichen Volten des Irrsinns zu sein, und da ist er auch nicht anders als seine großen Kollegen wie Thomas Mann, Peter Handke und Elias Canetti, die er immer wieder zitiert, so wie eine Rückversicherung, ja, denen geht’s doch auch so, Essen, Bewegen, Verdauen, Genervtsein, das findet ja nun nicht statt, nur weil es in deren Literatur keinen Zugang hat, und auch sie mögen ähnliche Meldungen gelesen haben, die Strunk im Radio hört: "Im fernen Indien ist der erste nationale Entwurmungstag ins Leben gerufen worden. Sage und schreibe 270 (in Worten: zweihundertsiebzig) Millionen Schulkinder sollen entwurmt werden."

Etwas, was man nicht erfinden kann und sicher seine Notwendigkeit hat, bekommt in den Kontexten unserer Leben eine groteske Sinnverschiebung ins Fantastische, und es ist nicht nur die Zahl 270, aber auch.

Stell mir vor, Sklave zu sein

Folglich: "Kann mich nur schwer konzentrieren, da mir dauernd krude Gedanken durch den Kopf schießen. Stell mir vor, Sklave zu sein, weil das Leben dann auf perverse Art ‚einfacher‘ wäre. Das Dasein als Sklave ist ungemütlich, aber dafür hat man keinerlei Verantwortung zu tragen. Oder gibt es Sklaven mit ‚Verantwortung‘? Hier sitze ich nun, ein furchtbarer, nie mehr korrigierbarer Lebensfehler für immer. Stecke mir versehentlich ein feuchtes Brillenputztuch in den Mund, weil ich es mit einem Kaugummi verwechselte. Was kommt als Nächstes?"

Vielleicht ist das das Schönste, dass man dem, was als Nächstes kommt, nicht als Belästigung, als vorsätzliche Quälerei entgegentritt, weil es einen dann doch nur noch mehr irritiert und straucheln lässt, sondern als Bereicherung hinnimmt, oder, wie Christoph Grissemann in einem Eintrag sagt, nachdem er im lähmenden gemeinsamen Urlaub ein dickes Buch (Stoner von John Williams) durchgelesen hat und gefragt wird, wie es war, antwortet: "WENIGSTENS IST ZEIT VERGANGEN", "man hofft immer, dass der Tag verstreicht und man sich am Abend endlich Alkohol einschenken kann".

Und dann kommt der Satz, der alles zusammenfasst, einerseits tröstet, aber auch nur so tut, als würde er uns etwas abnehmen, erlösen gar, eines dieser Sozialgeräusche, die das Buch hämisch wie mit geistiger Spucke zusammenklebt: "Alkoholismus ist der Imperialismus des kleinen Mannes." (Tex Rubinowitz, 16.2.2020)