Mitbewohner, immer schwierig. Aber die neue, unglaublich: In der ganzen Wohnung liegt seit einem Jahr ihr Zeug, aufgehoben hat sie noch nie was. Ich befüll' die Waschmaschine, sie räumt sie, ohne einzuschalten, wieder aus. Einkaufen geht sie nicht. Eigenes Geld verdient sie auch nicht. Geschirrspüler einräumen geht nicht, wenn sie da ist. Dann will sie lieber spielen. In jedes Mandarinenstück beißt sie einmal rein, saugt es aus und wirft den Rest auf den Boden. Sie hat Angst vor dem Staubsauger. Wenn ich auf den Balkon rauchen gehen will, kreischt sie. Meiner Freundin hat sie lange Zeit das Trinken untersagt.

Aber sie riecht gut. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel gelacht wie jetzt, seit sie bei uns wohnt. Wir gehen viel spazieren, und ich bin seltener verkatert. Hin und wieder koche ich was, das mag sie. Manchmal füttert sie mich und grinst stolz, wenn ich ihr aus der Hand esse. Seit einer Woche haben wir eine Band, sie spielt Mundharmonika, ich auch. Ich kuschel viel mit ihr, und meine Freundin stört das nicht. Die schlimmste Mitbewohnerin meines Lebens ist meine Tochter trotzdem. Der einzige Grund, wieso sie noch bei uns wohnt: Ich habe mich in sie verliebt.

Dienstantritt

Okay, der einzige Grund ist es nicht. Es ist gesellschaftlich verpönt, einjährige Kinder aus der Wohnung zu werfen. Meine Freundin wäre grantig und würde mir vorwerfen, dass das mit meiner Väterkarenz nicht optimal funktioniert hat. Das will ich nicht, schließlich waren es harte Verhandlungen, wer wie lange in Karenz gehen darf – wir wollten beide so lange wie möglich. Geeinigt haben wir uns auf sie acht Monate und ich sechs. Das finde ich fair, gerade weil die ersten zwei Monate wohl noch nicht wirklich als Karenz, sondern als Wiederherstellung gelten. Auch wenn mir der Rücken nach dem langen Sitzen im Kreißsaal wehgetan hat: Frauen leisten bei der Geburt schon mehr als Männer.

Seit Anfang Oktober habe ich die tägliche Aufsicht. Ich war noch nie so über- und unterfordert gleichzeitig. Hunderte verschiedene Handgriffe verlangt meine Tochter jeden Tag von mir, zu von ihr gewählten Zeiten: ausziehen, einschmieren, Windel wechseln, anziehen, Laden aufmachen, zumachen, spielen, tanzen, Essen machen, füttern, sauber machen, wo raufsetzen, lachen, wieder runtersetzen, spielen, vorlesen, umblättern, herumtragen, trösten, spielen, schlafend machen. Und zwischendurch soll ich stundenlang neben ihr sitzen und zuschauen, wie sie das alles selbst probiert. Helfen darf ich dann nicht, sonst wird sie grantig, weggehen aber auch nicht. Weil mich das langweilt, schreibe ich Tweets und ab jetzt auch Notizen für diese Kolumne.

Auszug aus dem Karenztagebuch von Peter Sim

1. Oktober 2019

Baby lebt, Baby schläft. Tag zwei kann nur schlechter werden.

7. Oktober 2019

Seit dem Skikurs in der Schule hat niemand mehr so laut vor mir gefurzt und mich dann so entspannt und freudig angelächelt.

10. Oktober 2019

Ich bin müde.

17. Okt. 2019

Das Baby erkennt jetzt Zusammenhänge: Es wirft was aus dem Gitterbett, lacht, ich heb's auf, leg's ins Bett, es nimmt's, wirft's wieder runter, lacht. Das machen wir, bis es Hunger bekommt oder ich es vor die Waschmaschine setze.

25. Okt. 2019

So ein Karenzleben ist fremdbestimmt, größtenteils vom Baby. Heute bin ich durchgedreht und ausgebrochen: Hab' das nasse Badetuch im Hallenbad liegen lassen, einfach so, weil ich's nicht einpacken wollt'. Ich hab' mich nie freier gefühlt.

29. Okt. 2019

Das Baby lacht seit dieser Woche über sich selbst. Setzt sich Bücher und Töpfe auf, lässt Flaschen fallen und kann nicht mehr aufhören zu kudern. Ich bin sehr verliebt. Müde, fremdbestimmt, aber verliebt.

5. Nov. 2019

Ich sag dem Baby schon beim Anziehen, dass die Unterhose unter die Hose, das Leiberl unter den Pullover und die Socken wann immer man will kommen, aber richtig viel red' ich nicht. Dafür jeden Tag "Mittagsjournal", das Baby wird mal reden wie die auf @oe1.

6. Nov. 2019

Man muss viele weitreichende Entscheidungen treffen. Haube oder nicht, ist ganz wenig Kot schon Dreck, und soll der Pelikan am Lichtschalter stehen?

19. Nov. 2019

Rund ums Baby wird wenig gegendert. Ich geh jetzt auch in Cafés, in denen "Mamas sich treffen und entspannen können", und fühl mich mitgemeint.

5. Dez. 2019

Erlebnisaufsatz: Erster Flug zu zweit. Baby wird's zu eng: Schreianfall. Ich schnall es um, geh auf und ab. Nach 20 Minuten schläft's. Dankbare Blicke der anderen, anerkennendes Nicken der Eltern. Fühlt sich an wie Standing Ovations. Ich drehe eine Ehrenrunde.

12. Dez. 2019

Das Schönste ist Baby ins Bett bringen: Wie es sich herkuschelt, gähnt, einem in die Augen schaut, seine voller Vertrauen langsam schließt, leise kichert und einschläft (5 Prozent). Weil ich gleich Netflix schauen und alleine aufs Klo gehen darf (95 Prozent).

8. Jan. 2020

Heute begonnen, dem Baby das Hütchenspiel beizubringen. Ich verstecke die Holzkugel abwechselnd im linken und rechten Schuh. Falls es dumm und unsportlich wird, hat es so später eine sichere Einnahmequelle. Jedes zweite Mal findet es die Kugel schon.

25. Jan. 2020

So, ein Achtzehntel ist geschafft. Im Jahr 2037 bin ich wieder frei. Alles Gute zum ersten Geburtstag, liebes Baby!

Peter Sim ist Journalist bei "Dossier". Statt Parteifinanzen, Geldwäsche, Inserate und Waffenhersteller investigiert er derzeit seine einjährige Tochter in der Väterkarenz. Er lebt bei ihr wie einst Hunter S. Thompson bei den Hells Angels. Seine Berichte lesen Sie ab jetzt jeden zweiten Sonntag online im STANDARD, sein Karenztagebuch auf Twitter.
Foto: Peter Sim