Bundeskanzler Sebastian Kurz trat eine Debatte über die Unabhängigkeit der Justiz los. Für den ehemaligen Justizminister Dieter Böhmdorfer ist das noch keine Justizpolitik. Wo Handlungsbedarf besteht, erläutert er im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Georg Krakow und Werner Zinkl.

Die Justiz ist in eine politische Diskussion geraten; und sie geht am Thema vorbei. Der Bundeskanzler erhebt Vorwürfe wegen zu langer Verfahren und politischer Netzwerke, während die Standesvertreter der Richter und Staatsanwälte im Gewerkschaftsstil mehr Geld und mehr Personal verlangen. Sowohl die Vorwürfe als auch die Forderungen sind keine Justizpolitik. Vielmehr lenken sie von der eigentlichen Frage ab, die niemand stellt: Arbeitet die Justiz ausreichend effizient? Meine Antwort: Nein! Dazu einige Beispiele:

Hausdurchsuchungen bei großen Unternehmen sind prinzipiell kostspielig. Es werden Unmengen an Akten abgeschleppt, die dann die Amtszimmer füllen und zur Überlastung führen. Die meisten der sichergestellten Materialien wären gar nicht notwendig, da eine gezielte Anfrage nach bestimmten Unterlagen seitens eines kompetenten Staatsanwaltes im Regelfall korrekt erledigt würde. Zumal ja von keinem großen Unternehmen eine kollektive Unterdrückung von Beweismitteln zu erwarten ist. Im Gegenteil: Im Krisenfall eines Strafverfahrens bemühen sich alle um Korrektheit.

Es gibt aber noch drastischere Beispiele für Ressourcenverschleuderung. Der Ehegatte der Buwog-Richterin, selbst Strafrichter, hat sich in den sozialen Medien die Verhaftung eines Hauptangeklagten und dessen sexuelle Belästigung im Gefängnis gewünscht. Dies macht die Richterin objektiv befangen. Anstatt die Konsequenz daraus zu ziehen, führt die Richterin das Verfahren weiter. Im Falle eines Schuldspruches wäre folgendes Szenario äußerst wahrscheinlich: Nach einem Jahrzehnt Ermittlungsverfahren und einem jahrelangen Prozess stellt der Oberste Gerichtshof die Befangenheit der Richterin fest, und das Verfahren ist zu wiederholen. Wer trägt die Kosten?

Cartoon: Michael Murschetz

Organisation erneuern

Zu oft werden Zivilprozesse durch mangelnde Vorbereitung von Richtern, bewilligte Versetzungen und andere Personalmaßnahmen, verbunden mit ineffizienten Vertretungsregelungen, verzögert. Das kostet Unsummen.

Hinzu kommt eine verfassungswidrige Arbeitsaufteilung bei vielen Zivilgerichten. Die Verfassung und geltende Vorschriften für die Geschäftsaufteilung sehen vor, dass Rechtssachen gegen dieselbe beklagte Partei von ein und demselben Richter zu behandeln sind. Das ist effizient und beschleunigt die Verfahren durch anwachsendes Spezialwissen der Richter. In der Praxis werden die Klagen nach einem Radl- oder Zufallsprinzip verteilt. Diese "Anfallsgerechtigkeit" soll unterschiedliche Arbeitsbelastung zwischen den Richtern vermeiden, widerspricht aber dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung und den Interessen der Bevölkerung.

Die Gerichtsorganisation wurzelt im Jahr 1848 und gehört von Grund auf erneuert. Die Bezirksgerichte gehören längst in die Landesgerichte integriert, das Rechtsmittelverfahren durch Verkleinerung der Rechtsmittelsenate effizienter gestaltet. Das moderne Rechtsinformationssystem ermöglicht Rechtsfragenlösungen in kürzester Zeit. Die ordentliche Gerichtsbarkeit könnte die positiven Elemente der Schiedsgerichtsbarkeit in eine verbesserte Handelsgerichtsbarkeit mit einem verkürzten Instanzenzug integrieren.

Keinen Generalstaatsanwalt

Zur Abschaffung des Weisungsrechts: Der pyramidenförmige Aufbau der Staatsanwaltschaften dient der Vereinheitlichung der Rechtsauffassungen der Staatsanwälte und damit der Rechtssicherheit. Den vielfach geforderten Generalstaatsanwalt gab es vorwiegend in den früheren kommunistischen Staaten. Das österreichische System ist nahezu deckungsgleich mit dem deutschen. Der Justizminister ist dem Strafrichter, dem Parlament und dem Verfassungsgerichtshof gegenüber verantwortlich. Man kann diese Verantwortlichkeit nachschärfen, aber sollte sie nicht an einen politischen Funktionär auslagern.

Es ist provokant unrichtig zu behaupten, dass Staatsanwälte nicht in Teams arbeiten können. Innerhalb von Stunden kann man Verstärkung durch andere Staatsanwälte oder Richteramtsanwärter erhalten. Geschieht dies nicht, ist das ein reines Organisationsverschulden der Dienstbehörde.

Auch die Trennung der Richterschaft in Zivil- und Strafrichter erhöht die Ineffizienz. Vor allem Strafurteile in Wirtschaftssachen können nur mit zivilrechtlichen Spezialkenntnissen mangelfrei gefällt werden. Das fehlende Spezialwissen kann leicht ersetzt werden, indem auch Zivilrichter in Strafsenaten tätig sind und umgekehrt. Derzeit werden zivilrechtliche Vorfragen in kostspielige und zeitraubende Sachverständigengutachten ausgelagert. Der Grundsatz "iura novit curia" (wonach die Gerichte alle Rechtsgebiete beherrschen) stimmt längst nicht mehr. Eine Verbesserung des Entscheidungsniveaus, insbesondere in Strafsachen, durch Förderung der Durchlässigkeit wäre angebracht.

Ohne Zuruf, ohne Druck

Es gibt also genügend Hausaufgaben, die die Justiz erledigen könnte, womit sie einen Beitrag zur Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung leistete. Ein weiterführendes Reformpaket müsste sich vor allem mit der Verkürzung der Verfahrensdauer in Zivil- und Strafsachen befassen. In Zivilsachen könnten alle Verfahren in erster Instanz in einem Jahr beendet werden. Das ist eine reine Organisationsfrage. In Strafsachen müsste eine Verfahrenseinstellung vorgesehen werden, wenn die Ermittlungsdauer – je nach Schwere des Falles – drei oder sechs Jahre überschreitet. Beide Befristungen werden nur funktionieren, wenn sie bei Verletzung mit speziellen Amtshaftungsansprüchen gegen die Republik Österreich abgesichert werden. Zahnlose Befristungsbestimmungen gibt es in der Rechtsordnung schon genug. Zusätzliche Budgetmittel sind dazu natürlich erforderlich, sollten aber an konkrete Maßnahmen gebunden werden. Die Effizienz der Verfahrensabläufe in der Justiz ist wissenschaftlich zu evaluieren.

Die Justizministerin hat als Rechtsanwältin mit internationaler Erfahrung sicherlich die Kompetenz, Reformvorschläge ohne Zuruf und Druckausübung umzusetzen. (Dieter Böhmdorfer, 15.2.2020)