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Die Zustände im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos sind katastrophal.

Foto: Reuters/Elias Marcou

Im Krieg und auf der Flucht traumatisiert, erleben Geflüchtete in Camps auf den griechischen Inseln gerade ihr drittes Trauma, das Europatrauma. Nicht wirklich willkommen zu sein, überrascht die Geflüchteten nicht, aber dass das reiche Europa nicht fähig oder willens ist, erste Hilfe in der Not zu leisten, muss tief verletzen.

Was sie in den vollkommen überfüllten Lagern auf Lesbos, Samos und Chios gesehen hat, wäre schlimmer gewesen als in den Flüchtlingslagern im Südsudan zur Bürgerkriegszeit, meinte eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen vor kurzem. Die Mehrheit der auf den Inseln festgehaltenen Geflüchteten sind Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan und Syrien. Monatelang warten sie auf den ersten Anhörungstermin. Jugendliche im Alter von nur zwölf Jahren versuchen sich das Leben zu nehmen, so unerträglich sind die Zustände vor Ort. Schwerkranke Kinder erhalten im Moment keine adäquate Versorgung, und es fehlt an Lebensnotwendigem wie Strom, Wasser und Lebensmitteln.

20.000 Menschen frieren unter Plastikplanen

In Lagern wie Moria, ausgelegt auf 3000 Menschen, frieren jede Nacht 20.000 Menschen unter Plastikplanen. Die lokale Bevölkerung ist verständlicherweise überfordert. Die Eskalation der Konflikte zwischen Inselbewohnern und Geflüchteten droht ebenso wie eine Radikalisierung der Jungen, die oft seit Monaten auf sich allein gestellt sind.

Man kann über die Aufnahme von Geflüchteten in Europa unterschiedliche Ansichten haben. Man kann über Migrationspolitik streiten und auch öffentlich debattieren, wie streng Asylregeln im Rahmen der Genfer Konvention ausgelegt werden sollen und wie vielen Geflüchteten am Ende das Bleiben ermöglicht werden soll. Doch zuzulassen, dass schwertraumatisierte Kinder und Jugendliche in Kälte und Schlamm dahinsiechen, ist eine Verletzung der fundamentalen Werte, auf denen das demokratische Nachkriegseuropa gründet. Der humanitäre Imperativ, das Gebot, Menschen erste Hilfe in Not zu leisten, ist und darf auf diesem Kontinent niemals verhandelbar sein. Menschenwürdige Bedingungen in Flüchtlingslagern, die ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung und Sicherheit für ihre Bevölkerung garantieren, sind kein Luxus, den wir uns leisten. Sie sind Verpflichtung!

Politisches Kalkül

Das politische Kalkül der griechischen Regierung scheint zu sein, durch die Zustände auf den Inseln so viele Menschen wie möglich von der Flucht nach Griechenland abzuhalten. Nun will sie noch einen Schritt weitergehen. Vor wenigen Tagen lancierten die dortigen Behörden die Idee, mithilfe von aufblasbaren Barrieren Geflüchtete von der Landung abzuhalten. Vor den griechischen Inseln sollen diese schwimmenden Grenzzäune aus Plastik Menschen an der Landung hindern. Schuld und Verantwortung für derartig absurde, menschenunwürdige Maßnahmen allein auf Griechenland zu schieben ist kurzsichtig. Das Versagen an der Peripherie des Kontinents ist ein Versagen von ganz Europa.

Wenn es unsere Staatengemeinschaft nicht einmal schafft, die insgesamt 41.000 Geflüchteten auf den Inseln der Ägäis menschenwürdig zu versorgen, dann kann sie auch andernorts auf der Welt keine Humanität und Werte mehr einfordern. (Philippe Narval, 16.2.2020)