Im Irak sorgt gerade ein Todesurteil gegen einen 20-jährigen jesidischen Überlebenden des Genozids des IS für große Aufregung unter anderen Überlebenden. Der junge Mann wurde ohne jegliche Beweise für den ihm angelasteten Mord an einem sunnitischen Kurden verurteilt. Im Gegenteil, es gibt Zeugenaussagen, dass er sich am Tag des Mordes in einem Camp der Vertriebenen in der Autonomieregion Kurdistan aufgehalten hat und gar nicht im Norden Sinjars, in der Nähe des Tatorts war. Der Fall wird aufgrund der komplexen politischen Gemengelage auch immer mehr zum Politikum.

Schmuggel und Mord

Am dritten August 2017, etwa eineinhalb Monate vor dem Referendum um die Unabhängigkeit Kurdistans wurden im äußersten Norden der Sinjar-Region zwei Männer direkt auf irakischer Seite der syrisch-irakischen Grenze angegriffen. Das Gebiet nahe der jesidischen Kleinstadt Khanasor ist unbewohnt und als Schmuggler-Route zwischen Syrien und dem Irak bekannt. Möglicherweise wurden die Beiden für Schmuggler gehalten. Jedenfalls starb einer der Männer unmittelbar vor Ort, während der andere schwere Verletzungen davon trug und erblindete. Bis heute ist weder geklärt was die beiden Männer an der Grenze taten, noch wer auf sie schoß.

Die Grenze zu Syrien wurde damals von den so genannten Rojava-Peshmerga kontrolliert, syrische Peshmerga, die der irakisch-kurdischen Führer der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Masoud Barzani nach Sinjar geschickt hatte, um das von der PKK-nahen Jesidenmiliz YBS kontrollierte Gebiet im Nordwesten Sinjars möglichst von der ebenfalls PKK-nahen YPG/YPJ kontrollierten Gebiet in Syrien zu trennen. Die Rojava-Peshmerga waren dafür aus Sicht der rivalisierenden PDK besonders gut geeignet, das es sich um Pro-Barzani-Kämpfer handelte, die vor der Herrschaft der Pro-PKK-Kräfte in Syrien geflohen waren und von denen viele die PKK-nahen Gruppen regelrecht hassten. Während sich jesidische PDK-Peshmerga meist weigerten auf PKK-nahe Jesiden zu schießen, kannten die Rojava-Peshmerga hier weniger Skrupel.

"Er ist hundert Jesiden wert!"

Beide Männer gehören zum kurdischen Stamm der Gergeri, einem sunnitischen Stamm in der Region, dessen Mitglieder 2014 zum Teil den IS unterstützt hatten aber auch in den Peshmerga, den Kämpfern der in Kurdistan regierenden PDK, stark vertreten sind. Die in der Region stationierten Rojava-Peshmerga beschuldigten zunächst die PKK beziehungsweise die YBS für den Mord, diese bestritt ihn. Aus dieser Gemengelage aus rivalisierenden Parteien und Milizen und der unterschiedlichen konfessionalisierten Konflikte zwischen sunnitischen und jesidischen Kurden wird der Fall nun aber zu einem Politikum.

Schon kurz nach dem Mord erklärte einer der führenden Sheikhs des sunnitischen Gergeri-Stammes öffentlich in eine Kamera: "Die Jesiden sollen den Mörder an das Gericht ausliefern oder sie sind alle schuld. Ich spreche im Namen des gesamten Gergeri-Stammes. Wenn dem Verletzten etwas geschieht, werden alle Jesiden dafür bezahlen. Er ist hundert Jesiden wert!"

Da es nicht einmal klar war, dass die Täter überhaupt Jesiden waren, lieferten auch keine Jesiden irgendeinen Täter aus. Am 6. Oktober 2017, also wenige Tage bevor sich die Peshmerga nach dem Unabhängigkeitsreferendum aus Sinjar und Kirkuk zurückzogen, wurden dann drei Männer verhaftet, von denen zwei rasch wieder entlassen wurden. Einer, Khaled Shamo, der damals gerade erst 18 Jahre alt war, allerdings nicht.

Der Ort Bara vor dem Sinjar-Gebirge.
Foto: Thomas Schmidinger

Keine weiteren Fragen

In der Anklageschrift des Gerichtes der Provinz Ninawa, berichtet das jesidische Nachrichtenportal Ezidi Press, wird Khaled Shamo als Täter beschuldigt. Er soll unter anderem auch das Fahrzeug der Täter geführt haben. In der Anklageschrift stehe, "Khaled Shamo Qirani aus Bara", einem Dorf an der Nordseite Sinjars, sei "Mitglied der PKK" und "für die Ermordung (mit-)verantwortlich".

Der Überlebende des Angriffes trat im Gerichtsprozess als Zeuge auf "identifizierte" trotz seiner völligen Erblindung, Khaled Shamo als Täter. Weitere Fragen wurden vom Gericht nicht gestellt.

Die Familie widerspricht den Vorwürfen massiv. Sie stamme aus Siba Sheik Khidir, das im Gegensatz zu Bara im Süden von Sinjar liegt. Khaled Shamo wäre laut Familie weder jemals in Bara noch in Khanasor gewesen. Er habe auch nie der YBS oder sonst einer Kampfeinheit angehört. Die Familie flüchtete nach dem Genozid 2014 in die Autonome Region Kurdistan und lebt seit 2014 im Vertriebenenlager Qadia bei Zakho. Khaled Shamo hat keinen Führerschein und Zeugenaussagen, dass der angebliche Täter am fraglichen Tag bei einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Genozids im Vertriebenenlager war, wurden vom Gericht nicht beachtet. Selbst die Polizei sagt, dass Khaled Shamo zum Tatzeitpunkt im Flüchtlingslager gewesen sei. Das Gericht ignorierte alle diese Aussagen und verurteilte den jungen Jesiden trotzdem zum Tode.

Massive Proteste gegen das Urteil

Das Urteil hat in den letzten Tagen zu massiven Protesten jesidischer Politikerinnen und Politiker, Aktivistinnen und Aktivisten und Milizführer geführt. Viele JesidInnen und Jesiden vermuten, dass es eine Absprache zwischen den Stammesführer der Gergeri und dem Richter gegeben hat, der ebenfalls einen sunnitischen kurdischen Stamm aus Sinjar, den Kecala, angehört, von dem sich viele 2014 dem IS angeschlossen hatten.

Derzeit geht der Prozess in die Berufung. Sollte das Todesurteil bestätigt werden, könnte nicht nur ein Unschuldiger hingerichtet werden, sondern das Verhältnis zwischen Jesidinnen und Jesiden und sunnitischen Kurdinnen und Kurden erneut einen Tiefpunkt erreichen.

Die meisten 2014 vertriebenen Jesidinnen und Jesiden sind bis heute nicht in ihre Heimat zurückgekehrt, weil die Konflikte in der Region eine Rückkehr viel zu gefährlich erscheinen ließen. Mit diesem Urteil wird das ohnehin schon sehr geringe Vertrauen der Minderheiten in Staat und Justiz erneut auf die Probe gestellt. (Thomas Schmidinger, 20.2.2020)

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