Ein Helfer der spanischen NGO Maydayterraneo nähert sich im Mittelmeer einem Schiff voller Flüchtlinge und Migranten.

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Vincent Cochetel: "Europa darf nicht blind auf einem Auge sein."

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International wird seit einigen Wochen intensiv um einen Waffenstillstand im dauerkrisengeplagten Libyen gerungen. Gleichzeitig war die EU lange uneinig in Sachen EU-Militärmission Sophia, nun wird sie endgültig beendet und durch eine neue Marinemission ersetzt. Im Schatten dieser Ereignisse gab es im Jänner einen leichten Anstieg bei Abfahrten von Menschen aus Libyen in Richtung Europa, sagt Vincent Cochetel, Sonderberichterstatter für das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in der Mittelmeerregion, im STANDARD-Interview. Die Zustände in den libyschen Internierungslagern, so der 58-Jährige, seien weiterhin katastrophal. Diesbezüglich und auch hinsichtlich der Seenotrettung im Mittelmeer nimmt er Europa in die Pflicht.

STANDARD: UNHCR hat Ende Jänner die Arbeit in einem Sammel- und Transitzentrum in Tripolis eingestellt. Warum?

Cochetel: In dem Zentrum waren hunderte Flüchtlinge untergebracht. Eine Miliz hat direkt daneben Militärübungen abgehalten, weshalb wir befürchteten, dass das ganze Gebiet ein militärisches Ziel werden könnte. Unter diesen Bedingungen konnten wir nicht mehr weiterarbeiten, das war zu gefährlich.

STANDARD: Erwägt UNHCR, sich aufgrund des militärischen Konflikts aus Tripolis oder gar aus Libyen zurückzuziehen?

Cochetel: Nein, wir wollen die Menschen dort nicht im Stich lassen. Ab und zu werden wir kritisiert, nicht genug zu machen, aber die Möglichkeiten für uns sind dort beschränkt. Beispielsweise gibt es viele Orte in Libyen, die wir nicht erreichen können, darunter mehrere Internierungslager. Aber wir haben Zutritt zu einigen der offiziell aktuell elf Lager, und wir können der Mehrheit der Flüchtlinge, die in Tripolis außerhalb der Lager leben, helfen. Es ist nicht viel, was wir unter diesen Umständen machen können, aber es sind lebensrettende Maßnahmen.

STANDARD: Wer leitet die Lager wirklich?

Cochetel: Offiziell das Innenministerium, in der Realität sind es Milizen, die das Gebiet kontrollieren, in dem das jeweilige Lager liegt. Wenn du all den Papierkram erledigt hast und damit die Erlaubnis, das Lager zu betreten, heißt das nicht, dass du wirklich hineindarfst oder mit jenen reden kannst, mit denen du reden willst. Es hängt oft vom Willen der Securitys am Eingang ab, was du darfst und was nicht.

STANDARD: Was haben Sie dort gesehen?

Cochetel: Die Lager sind komplett überfüllt, es gibt sehr schlechte sanitäre Bedingungen, was zu Atemwegserkrankungen wie Tuberkulose bei den Insassen führt. Unterernährung ist weit verbreitet, weil es nur eine Mahlzeit am Tag gibt. Wenn du hineinkommst, wollen alle gleichzeitig mit dir reden. Sie haben vollkommen unrealistische Erwartungen an uns: dass wir sie aus den Lagern bringen und nach Europa fliegen. So funktioniert das aber nicht. Deshalb sind sie meist enttäuscht von uns. Uns ist bewusst, dass die Menschen viel durchgemacht haben, aber wir haben limitierte Möglichkeiten.

STANDARD: Können Sie mit den Insassen frei und unter vier Augen reden?

Cochetel: Das hängt vom Lager ab. Man kann eigentlich immer mit Gruppen reden, aber man kann keine Fragen stellen, die zu einer möglichen Vergeltungsaktion führen könnten. Das betrifft vor allem Fragen zur Behandlung in den Lagern. Man muss bei den Fragen sehr aufpassen, es gibt viele, die spionieren und das Gehörte dann berichten. Wir dürfen keine eigenen Dolmetscher mitnehmen, also müssen andere Insassen übersetzen. Und du weißt nicht, ob du am nächsten Tag oder in der nächsten Woche wieder in dieses Lager darfst und ob die Person, mit der du geredet hast, dann noch da ist. Menschen verschwinden aus den Lagern, wenn ihnen die falschen Fragen gestellt werden.

STANDARD: Wie viele Flüchtlinge leben derzeit innerhalb und außerhalb der Lager?

Cochetel: Es leben derzeit rund 2.800 Menschen in den Lagern, 1.700 davon unter dem Mandat von UNHCR. Außerhalb sind es etwa 47.000.

STANDARD: Im letzten Jahr gab es mehrere Berichte unter anderem vom "Guardian", Euronews und AP, in denen UNHCR für die Kooperation mit libyschen Milizen kritisiert wurde. Inwiefern haben Sie darauf reagiert?

Cochetel: In der Vergangenheit haben wir kommuniziert, was wir in Libyen tun, ohne zu erklären, unter welchen Bedingungen wir arbeiten. Es wurde von uns erwartet, dass wir in Libyen genauso arbeiten wie in anderen Ländern. Aber wie gesagt, unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Es ist gefährlich für die Flüchtlinge, es ist gefährlich für unser Personal. Das haben wir in der Vergangenheit schlecht kommuniziert. Uns wurde in einigen Medienberichten auch vorgeworfen, wir würden die Flüchtlinge im Stich lassen, sie verhungern lassen. Das stimmt nicht. Wir verstehen die Frustration der Flüchtlinge, es ist nicht ausreichend, was wir machen, aber wir können aufgrund der Beschränkungen derzeit nicht mehr tun.

STANDARD: Es gab in den vergangenen Wochen einige internationale Treffen, um einen permanenten Waffenstillstand in Libyen zu erreichen. Was würde der für die Flüchtlinge im Land bedeuten?

Cochetel: Würde Frieden in Libyen bedeuten, dass sich die Situation dort für Flüchtlinge und Asylwerber verbessert? Ich bin mir nicht sicher. Viele vergessen, dass es für sie unter Gaddafi auch schrecklich war.

STANDARD: Machen sich derzeit mehr Menschen auf, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen?

Cochetel: Es gab einen leichten Anstieg im Jänner, was untypisch ist, weil die See zu der Zeit rauer ist. In der Regel sind die Überfahrten im Jänner seltener. Wir vermuten, dass die Kämpfe in und rund um Tripolis dazu geführt haben, dass es mehr Raum für Schlepper gibt, um Menschen in Booten loszuschicken. Aber ganz genau wissen wir es derzeit nicht. Es ist auf alle Fälle etwas, was uns Sorge bereitet. Auch, dass vermehrt Libyer in den Booten sitzen. Wir glauben, dass die Einheimischen genug von den Kämpfen haben.

STANDARD: Italien hat jüngst verkündet, die umstrittene Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache fortzusetzen. Eine gute oder schlechte Nachricht? Schließlich heißt es ja, dass die Küstenwache und die Schlepper eng kooperieren bzw. oft die gleichen Akteure sind.

Cochetel: Eines vorweg: Jedes Land hat das Recht, sein Territorium zu schützen. Wir haben aber ein Problem damit, dass die libysche Küstenwache jenseits ihres Territoriums agiert und dass sie sich bei der Behandlung der aufgehaltenen Menschen nicht an internationale Standards hält. Es gab Zwischenfälle, wo sie auf Menschen geschossen haben, und sie bringen die Menschen zurück in die Internierungslager, wo die Bedingungen wie gesagt sehr schlecht sind. Europa darf nicht blind auf einem Auge sein und sagen: Wir kooperieren nur mit der Küstenwache, alles andere interessiert uns nicht. Die EU, Italien unterstützen nicht das Internierungssystem in Libyen, aber eben die Küstenwache, die jene, die sie abfängt, in dieses System bringt. Jede Unterstützung der Küstenwache sollte gebunden sein an die Bedingung, dass Asylwerber und Migranten fair behandelt werden.

STANDARD: Gab es sonst irgendwelche Versuche der EU oder europäischer Länder, die Bedingungen in den Internierungslagern zu verbessern? Das wurde schließlich von mehreren Politikern gefordert.

Cochetel: Europa hat gemeinsam mit UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration Druck auf die libyschen Behörden gemacht, die willkürlichen Inhaftierungen zu beenden, denn die meisten müssen gar nicht inhaftiert werden. Es gibt auch keine zeitliche Begrenzung für die Inhaftierungen, zudem keine rechtliche Grundlage dafür. Es würde oft reichen, dass sich die Menschen regelmäßig bei der Polizei melden. Das muss komplett reformiert werden. Stand jetzt gibt es da aber keine Fortschritte.

STANDARD: In der EU wurde lange über eine Wiederaufnahme der Militärmission Sophia im Mittelmeer gestritten. Jetzt wird sie endgültig beendet, dafür kommt eine andere Mission. Welche Bedeutung hat staatliche Rettung für die Menschen in Libyen?

Cochetel: Menschen verlassen weiterhin Libyen über das Mittelmeer, wenn auch nicht in so hoher Zahl wie vor ein paar Jahren. Es ist eine Zahl, die für Europa verkraftbar wäre, das versuchen wir den europäischen Ländern auch klarzumachen. Das Problem ist auch, dass die Asylverfahren in Europa so lange dauern. Wer nicht bleiben darf, sollte zurückgebracht werden, doch das funktioniert nicht gut. Europa hat große Angst vor großen Bewegungen aus Libyen nach Norden. Wir denken nicht, dass das passieren wird. Was Sophia betrifft: Es ist wichtig, dass sich Europa an den Rettungsaktionen beteiligt, sonst würde die Verantwortung bei den wenigen NGOs und Handelsschiffen hängen bleiben. Die hätten dann das bekannte Problem, dass sie schauen müssen, wo sie die Geretteten an Land bringen müssen. Libyen ist keine Option, es ist dort zu gefährlich. Europa hat also die Wahl: selber retten oder die Verantwortung für die Geretteten übernehmen.

STANDARD: Im libyschen Nachbarland Tunesien ist die Zahl von Asylwerbern und Migranten zuletzt stark gestiegen. Es gibt Berichte, auch vom STANDARD, dass UNHCR und andere Hilfsorganisationen damit stark überfordert seien.

Cochetel: Das stimmt. Die Zahlen sind nicht sehr hoch, etwas mehr als 3.000. Die Hilfe ist nicht sehr effizient, weil wir dort einfach nicht die notwendigen Ressourcen haben.

STANDARD: Es heißt, viele gehen deshalb von Tunesien wieder nach Libyen zurück.

Cochetel: Es sind nicht viele, aber ja, es gehen einige zurück nach Libyen. In Tunesien können wir sechs Monate Unterkunft anbieten, Beratung, Sprachkurse, die an Arbeitsverträge gebunden sind. Viele sind aber nicht interessiert, in Tunesien zu bleiben, sie wollen nach Europa. Wir sind aber eine Flüchtlingsschutzorganisation, keine Reiseagentur. Wenn wir ihnen sagen, dass wir sie nicht via Resettlement nach Europa bringen können, sagen sie: Okay, dann gehe ich zurück nach Libyen. Sie hoffen dann, dass sie über UNHCR in Libyen nach Europa kommen.

STANDARD: Die Menschenrechtsgruppe Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Soxiaux hat auf Facebook ein etwa einminütiges Video gepostet. Zu sehen sind Sie im Gespräch mit mehreren Migranten und Asylwerbern in Tunesien. Zu hören ist, wie Sie sagen: "Es ist mir egal, ob Sie wieder nach Libyen zurückgehen." Das hat in Tunesien für Wirbel gesorgt.

Cochetel: Das war vor etwa einem Jahr in einem Auffanglager in Medenine. Die dort Untergebrachten hatten sich Kämpfe mit Einheimischen geliefert, waren oft betrunken. Sie haben Räume zerstört, sich dann auch untereinander geprügelt. Sie haben auch Personal für einige Stunden als Geiseln genommen. Ich habe mich mit einigen von ihnen drei Stunden lang unterhalten, das Video ist also nur ein sehr kleiner Ausschnitt. Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia haben zu mir gesagt: Sie sind verantwortlich für unseren Tod, denn wir gehen zurück nach Libyen. Meine Antwort: Es ist mir egal, ob Sie wieder nach Libyen zurückgehen. Sie sind hier nicht in einem Gefängnis, sie können gehen, wohin Sie wollen. Wir können nicht viel anbieten, aber es ist nicht so schlecht: Unterkunft, Verpflegung, Sprachkurse. Wenn das nicht reicht, können Sie woanders hingehen. Diese Situation kommt in vielen Ländern vor. Diese Menschen haben viel durchgemacht, viel Geld an Schlepper bezahlt, mit dem einzigen Ziel, nach Europa zu kommen. Wenn wir ihnen erzählen, dass wir das nicht von Tunesien aus machen können, weil es hier kein Resettlementprogramm gibt, akzeptieren sie das nicht.

STANDARD: Was erwarten Sie in den nächsten Monaten hinsichtlich der Situation in und rund ums Mittelmeer?

Cochetel: Ich hoffe nicht, dass es eine neue Flucht- und Migrationskrise gibt. Alles hängt von der Situation in Libyen ab. Aber zu glauben, dass keine Menschen mehr von Libyen ablegen, ist unrealistisch. Wir hoffen, dass die Zahlen so niedrig bleiben wie derzeit, die europäischen und auch nordafrikanischen Länder wären bei einem großen Anstieg der Ankünfte überfordert. Wir beobachten die Lage in den Ländern südlich von Libyen genau. Ich bin vor kurzem zurückgekehrt aus Mali und Burkina Faso, wo sich die Situation massiv verschlechtert hat. Das könnte zu neuen Bewegungen in Richtung Marokko und Libyen führen. Auch die Situation in Darfur im Sudan verschlechtert sich, deshalb könnten Menschen in den Tschad und nach Libyen flüchten. Es gibt also einige Unruheherde rund um Libyen, die hoffentlich nicht schlimmer werden.

STANDARD: Das ist das, was Sie hoffen. Und was erwarten Sie?

Cochetel: Ich erwarte unglücklicherweise, dass die Situation in Libyen gleich schlecht bleibt, mit beschränktem Zugang zu Internierungslagern. Ich erwarte, dass weiterhin Menschen nach Libyen kommen, um von dort nach Europa zu gelangen. (Kim Son Hoang, 18.2.2020)