Die Albaner waren und sind ein unberechenbares und stets unterschätztes Element in der Balkanpolitik der Europäischen Union und der Großmächte. Angesichts der strategisch wichtigen Lage Albaniens, der Republik Kosovo und Nordmazedoniens bleibt die Sprengkraft des albanischen Nationalismus ein Unsicherheitsfaktor ersten Ranges für die Nachbarstaaten. Deshalb hat das Blockieren der Eröffnung der Beitrittsgespräche der EU mit Nordmazedonien und Albanien berechtigte Besorgnisse in der Region ausgelöst. Im Kosovo trat kürzlich Albin Kurti sein Amt als Ministerpräsident an. Der 44-jährige einstige linksradikale Aktivist und nationalistische Rebell verspricht jetzt einen gemäßigten Kurs, allerdings ohne Kompromisse in Grundsatzfragen.

Was alle kundigen Beobachter fast einhellig betonen, ist sein Ruf als absolut unbestechlicher Politiker. Es bleibt freilich abzuwarten, ob die versprochene "neue Ära" von Dauer sein wird. Fest steht, dass derzeit nicht nur im Kosovo, sondern auch im Nachbarland Albanien nicht – wie oft unterstellt – die Nostalgie nach einem "Großalbanien", sondern der Kampf für den Rechtsstaat und gegen die Korruption das politische Geschehen prägt. Die Gespräche, die ich dieser Tage in Tirana und anderen Städten Albaniens geführt habe, hinterließen den Eindruck eines sehr fragilen Staates.

Edi Rama, Ministerpräsident der Republik Albanien.
Foto: imago/Metodi Popow

Der seit fünf Jahren regierende sozialistische Premierminister Edi Rama, ein bekannter Maler, dürfte seinen Ruf in erster Linie seinem internationalen künstlerischen Netzwerk und seiner rhetorischen Begabung verdanken. Seine sporadischen nationalistischen Töne (er hat einen gemeinsamen Staatspräsidenten für Albanien und Kosovo vorgeschlagen) sollten weniger ernst genommen werden als das von den Kritikern gezeichnete Bild von Politfilz in den Institutionen der Justiz und von politischer Verkommenheit infolge des enormen Einflusses der Drogenkartelle in Albanien.

Tragikomödie

Dass die Sprecher der Demokratischen Partei, die das Parlament und die Wahlen einstweilen boykottieren, die versprochene Durchleuchtung der Richter und der Staatsanwälte als eine Tragikomödie bezeichnen und die Regierung der Selbstbediener verurteilen, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch Jahrzehnte politischen Machtmissbrauchs die Justiz und die gesamte öffentliche Verwaltung bereits sehr stark beschädigt wurden. Trotzdem betonen selbst die schärfsten Kritiker der Rama-Regierung, dass die Verhandlungen mit der Europäischen Union unbedingt aufgenommen werden sollten. Die internationale Gesellschaft müsste alles tun, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen und den doch begonnenen Wandel zu unterstützen.

Ich gehöre zu den wenigen Kommentatoren, die die unbarmherzigste Diktatur in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, nämlich das mörderische Regime Enver Hodschas, in eigenen Erfahrungen erleben und sie den Zuschauern und Lesern zeigen konnten. Das tat ich auch zur Zeit der blutigen Abrechnung von Miloševic, Mladic und Karadžic mit den Kosovo-Albanern.

Die erstaunliche Widerstandskraft des albanischen Volks gegen autoritäre Tendenzen auch heute erfordert angesichts der enormen Herausforderungen Verständnis, Hilfe und Solidarität der internationalen Gesellschaft. (Paul Lendvai, 17.2.2020)