Einträchtig hängen Ayatollah Sistani (links) und der iranische Religionsführer Khamenei (rechts) bei der Pilgerfahrt in Najaf nebeneinander.

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Beide sind mächtige alte Männer, mit weißen Bärten und schwarzen Turbanen: Der Ältere, 89-Jährige, scheint, da es von ihm fast nur die typischen Plakate mit dem ikonografisch erstarrten Ayatollah-Gesicht gibt, noch strenger, ferner als der Jüngere, 80-Jährige. Dieser, Ali Khamenei, ist aber auch Politiker, der oberste Führer des Iran, während Ali Sistani seine Macht, die er weltweit über Schiiten ausübt, allein aus seiner religiösen Stellung bezieht. Politische Funktion hat der aus dem Iran stammende Sistani, der seit 69 Jahren im irakischen Najaf lebt, keine.

Genau die Frage des Verhältnisses zwischen politischer und religiöser Macht – welche Rolle die schiitischen Mullahs im Staat spielen sollen – trennt Khamenei und Sistani. Es geht dabei jedoch nicht nur um die Weltanschauungen zweier alter Ayatollahs, sondern um die Zukunft des Iran und des Irak. Was passiert, wenn sie sterben, wer nimmt ihre Positionen ein, mit welchen Folgen für das jeweilige Nachbarland?

Vor allem für viele Iraker und Irakerinnen ist das eine brennende Sorge. Ali Sistani ließ sich 1951 in Najaf nieder: Er lebte in der schiitischen theologischen Hochburg, als der spätere iranische Revolutionsführer Ruhollah Khomeini ebendort seine Staatstheorie für eine "islamische Republik" entwickelte. Der Großteil des schiitischen Klerus konnte sich für Khomeinis Konzept des "Velayat-e faqih", der "Herrschaft des Rechtsgelehrten", nicht begeistern, der quasi als Stellvertreter für den im 10. Jahrhundert verschwundenen 12. schiitischen Imam regieren soll. Auch dem Traditionalisten Sistani blieb die Idee stets fremd. Aber wie wird sich Najaf entwickeln, wenn er stirbt – und gleichzeitig der Iran den Machtkampf im Irak gewinnt? Abbas Khadim zitiert in einem Artikel für den Atlantic Council einen Anonymus, der sinngemäß meint, dann könnten die dortigen Mullahs gleich die Koffer packen.

Sistani wird medial manchmal fälschlicherweise als "liberal" bezeichnet, das ist er ganz gewiss nicht. Aber er akzeptiert die Realität eines religiös vielfältigen Irak und ein ziviles Staatswesen auf Basis der neuen irakischen Verfassung von 2005. Dabei betätigt er sich eigentlich permanent als Regierungskritiker – aber gleichsam im Namen der Menschen, vor allem seit Beginn der Protestbewegung im Oktober.

Schutzschild gegen Staatsgewalt

Sistani konnte zwar nicht verhindern, dass hunderte Demonstranten getötet wurden, dennoch gilt er als Schutzschild, der die Protestbewegung vor der ultimativen Staatsgewalt schützt. Khamenei hingegen denunziert sowohl die eigenen iranischen als auch die irakischen Demonstranten als Agenten der USA. In "Asharq al-Awsat" spricht Amir Taheri von Sistanis "Glacéhandschuhen" im Gegensatz zu Khameneis "eiserner Faust". Als die USA am 3. Jänner im Irak den hohen und populären iranischen General Ghassem Soleimani töteten, kondolierte Sistani Khamenei, mit dem er nicht oft kommuniziert: Das war eine klare Kritik an den USA. Gleichzeitig rief er jedoch alle Seiten – also auch den Iran – zur "Zurückhaltung" auf.

Die Sorge um die Gesundheit Sistanis ist größer denn je, seitdem er sich im Jänner ein Bein brach und operiert werden musste. Er hat auch im Iran viele Anhänger, für die er als "Marja al-taqlid", als "Quelle der Nachahmung", gilt. Gab es in früheren Zeiten weltweit nur einen Großayatollah, der diesen Titel für sich beanspruchen konnte, so sind das heute mehrere. Aber Sistani gilt als der wichtigste, er wäre demnach der "Marja al-A’la" (der höchste Marja).

Khamenei ist von diesem religiösen Status weit entfernt. Laut Taheri kommt Khamenei genau deshalb nicht nach Najaf, wo der Schrein des ersten schiitischen Imams, Ali Ibn Abi Talib (Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed), steht: Er müsste dem religiös stärkeren Sistani Tribut zollen und ihn besuchen. Sistani seinerseits würde ihn nicht aufsuchen.

Khamenei ist nach Khomeini – der auch ein Marja war – erst der Zweite, der die Position des religiösen Führers in der 1979 gegründeten Islamischen Republik innehat. Er ist zwar fast neun Jahre jünger als Sistani, aber er gilt seit Jahren als schwer krank.

Je nachdem, wo das politische Barometer im Iran gerade steht, werden die Voraussagen für eine mögliche Nachfolge im Fall seines Todes getroffen: Jahrelang hielten es Beobachter für möglich oder sogar wahrscheinlich, dass nach Khamenei der einzelne Rechtsgelehrte durch ein von mehreren Personen besetztes Gremium ersetzt werden könnte. Heute steht wohl der Kurs für den einen Mullah, der die Geschäfte – und die enorme politische Macht – Khameneis erben könnte, wieder besser. Ein wiederkehrender Name ist Ebrahim Raisi, der jetzige Hardliner-Justizchef – das wäre keine gute Nachricht für die vielen Iraner und Iranerinnen, die sich eine Öffnung wünschen.

Bollwerk gegen Irans Einfluss

Während in Teheran nach dem Ableben Khameneis eine Entscheidung wohl relativ rasch gefällt würde, so könnte es nach Sistanis Tod dauern, bis jemand zu seiner Stärke heranwächst. Aber Najaf besteht nicht nur aus Sistani, es gibt hier das Kollektiv der Großayatollahs in Najaf, die nicht einfach verschwinden würden. Das ist eine gewisse Beruhigung. Andererseits zeigen manche irakischen Milizenführer, die ihre politischen Vertretungen im irakischen Parlament haben, ganz offen ihre Loyalität Khamenei – und dem iranischen System – gegenüber. Und so kommt es, dass ein 89-jähriger gebürtiger Iraner vielen Irakern als letztes Bollwerk gegen den Einfluss der Islamischen Republik Iran erscheint. (Gudrun Harrer, 19.2.2020)