Die Kassenreform werde nicht wehtun, versprachen ÖVP und FPÖ. Doch statt der versprochenen Finanzspritze fürs System gibt es erst einmal ein sattes Defizit.

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Wien – In der Sozialversicherung geht es hart auf hart. Die Fronten verlaufen dabei exakt entlang der politischen Bruchlinien: Türkise und Rote hauen sich gegenseitig Vorwürfe um die Ohren.

Auslöser: Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), die durch die von der türkis-blauen Regierung verfügte Fusion entstanden ist, erwartet ein sattes Defizit. Demnach soll sich das Minus, wenn man die jährlichen Verluste zusammenrechnet, über fünf Jahre von 2020 bis 2024 auf 1,7 Milliarden summieren.

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Peter Lehner, derzeit Vorsitzender im Dachverband der Sozialversicherungsträger, hatte rasch Schuldige bei der Hand. Verantwortlich seien "Beschlüsse der roten Selbstverwaltung", sagte der ÖVP-Mann und Arbeitgebervertreter: Vor der Fusion sei "sehr willkürlich ohne Rücksicht aufs Budget" Geld ausgegeben worden – etwa durch zu großzügige Honorarverträge mit den Ärzten.

Die Gegenseite ließ sich das nicht gefallen. Am Dienstag rückten die leitende ÖGB-Sekretärin Ingrid Reischl, die Lehner turnusmäßig an der Spitze des Dachverbands ablösen wird, und Andreas Huss, Arbeitnehmerobmann in der ÖGK, zu einer Gegendarstellung aus. Kernaussage: Die alte Regierung aus ÖVP und FPÖ habe mit ihren Beschlüssen 724 Millionen der 1,7 Milliarden verursacht.

· Kein Ersatz für Arbeitsunfälle: Wird ein Unfallopfer in ein Spital eingeliefert, ist die Ursache nicht immer gleich klar. So kommt es vor, dass Menschen nach Arbeitsunfällen in gewöhnlichen Spitälern landen, obwohl die Einrichtungen der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) zuständig sind. Letztere zahlt der ÖGK dafür bis 2022 eine jährliche Kompensation von rund 209 Euro, die früher nicht nur vorher höher lag, sondern ab 2023 überhaupt nicht mehr vorgesehen ist. Macht ein Minus von einer halben Milliarde.

· Weniger Steuergeld: Gekürzt wurden auch die sogenannten GSBG-Mittel, ein Steuerzuschuss des Bundes an die Krankenversicherung – macht laut Rechnung in Summe 174 Millionen aus.

· Geld für Privatspitäler: Die Gesundheitskasse hat laut Gesetz mehr für die Finanzierung von Privatspitälern zu zahlen – unter anderem für die neu dazugekommene Privatklinik Währing. Mehrkosten: 55 Millionen Euro.

Inklusive weiterer kleinerer Posten kommen Reischl und Huss auf die 724 Millionen. Und der Rest von den 1,7 Milliarden? Huss verweist darauf, dass die Ausgaben der Kasse für Medikamente, ärztliche Leistungen und Spitäler laut Prognose stärker steigen werden als die von flauer Konjunktur gedämpften Einnahmen aus den Beiträgen der Versicherten.

Forderungen: Die Änderung jenes Paragrafen, der dem Dachverband die Festlegung von Selbstbehalten beim Arztbesuch erlaubt – denn solche seien als Folge zu befürchten. Außerdem brauche es einen finanziellen Ausgleich für die ÖGK, die benachteiligt sei, weil sie im Gegensatz zu den Versicherungen der Beamten und Selbstständigen mehr Menschen ohne Job und mit schlechterem Gesundheitszustand betreut.

Teure kranke Häftlinge

Das Duo warnt vor weiteren Kosten. Weil alle nur mit der Fusion beschäftigt seien, bezweifelt Huss, dass die Kassenführung einen günstigen Ersatz für den 2018 ausgelaufenen Rahmenvertrag mit den Pharmafirmen zustande bringt, in dem die Medikamentenkosten vereinbart werden. Und dann sei da noch der Regierungsplan, die vom Justizministerium bezahlten Kosten für die Versorgung von Häftlingen der ÖGK umzuhängen. Huss spricht von einer Milliarde im Jahr, was später als Irrtum korrigiert wird: Tatsächlich belaufen sich die Ausgaben für 19.951 Insassinnen und Insassen auf "nur" 94,6 Millionen.

Sozialminister Rudolf Anschober (Grüne) verspricht, dieses Problem ebenso in Angriff zu nehmen wie die Defizitfrage: Für Mittwochabend hat er alle Vertreter zum runden Tisch geladen.

Kurz verteidigt "Patientenmilliarde"

Bundeskanzler Sebastian Kurz verteidigte die türkis-blaue Reform am Dienstagabend im ORF-"Report". Durch die Zusammenlegung der Kassen auf eine einzelne gebe es Einsparungspotenziale, die versprochene Milliarde werde über mehrere Jahre verteilt für die Patienten ausgegeben. Wie viel das sein werde und wann das Geld verwendet werden könne, ließ er offen.

Ähnlich gelassen zeigte sich ÖGK-Generaldirektor Bernhard Wurzer. Die Prognosen seien das Worst-Case-Szenario, man müsse jetzt den Gürtel nach innen hin enger schnallen und die Krankenkasse wieder in schwarze Zahlen führen. Das will Wurzer durch gezielte Maßnahmen schaffen. Ob dazu ein Risikoausgleich mit anderen Kassen nötig sei oder gar Selbstbehalte und höhere Beiträge der Versicherten, will er allerdings der Bundesregierung überlassen. Das sei eine politische und keine Managementfrage, wenngleich weder Selbstbehalte noch höhere Beiträge im Regierungsprogramm stünden, betonte Wurz.

Einsparungen bei Bürokratie und Ärztehonoraren

Sparen wolle man jedoch in der Bürokratie, die ÖGK soll insgesamt effizienter werden. Mittelfristig könne man durch eine Pensionierungswelle einige Stellen einsparen, wie viele es genau werden, darauf wollte sich Wurzer nicht festlegen. Außerdem sei man in Verhandlungen mit den Vertragspartnern und Ärzten, um über neue Honorarmodelle zu sprechen.

ÖGK-Generaldirektor Bernhard Wurzer kündigt einen "Konsolidierungspfad" an. Kürzen wolle man nicht bei den Leistungen für die Versicherten, sondern bei künftigen Honorarverträgen für Ärzte und andere Leistungsanbieter.
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Auch bei Beamten Minus erwartet

Ebenso wie die ÖGK rutscht auch die mit den Eisenbahnern und Bergbauern fusionierte Beamten-Versicherungsanstalt BVAEB in die roten Zahlen. Bis 2024 wird ein jährliches Defizit von gut 80 Millionen Euro für den Bereich der Krankenversicherung vorhergesagt. Insgesamt wird sich der Verlust damit in den kommenden fünf Jahren auf 422 Millionen Euro summieren.

Das geht aus der Gebarungsvorschau hervor, die Generaldirektor Gerhard Vogel erläutert. Im Gegensatz zur Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen und Bauern (SVS), wo es auch nach der Fusionierung noch unterschiedliche Regelungen gibt, hat es in der BVAEB mit 1. Jänner auch eine Leistungs- und Beitragsharmonisierung gegeben. Eisenbahner und Bergbauern zahlen damit jetzt ebenso wie die Beamten einen Behandlungsbeitrag von zehn Prozent beim Arztbesuch. In der BVAEB sei der Grundsatz "Gleiche Leistungen für gleiche Beiträge" umgesetzt worden, betonte Vogel. (Gerald John, red, 19.2.2020)