"Wir müssen immer wieder Stoppschilder aufstellen, wenn Grundrechtseingriffe unverhältnismäßig sind", sagt VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter.

Foto: Andy Urban

"Da müsste man die Regierungen der letzten 20 Jahre fragen", Christoph Grabenwarter über den geringen Frauenanteil im Richterkollegium.

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Noch fehlt der Schreibtisch im Präsidentenzimmer. Die Übersiedlung wird erst in den kommenden Tagen abgeschlossen. Am Mittwoch stand für Christoph Grabenwarter die Angelobung als Verfassungsgerichtshofpräsident durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf dem Programm. Indirekt ging dieser auch auf die Justizdebatte ein. Kritik an Urteilen sei zulässig, solange nicht die Institution als solche infrage gestellt werde. Unter den Zuhörern: Kanzler Sebastian Kurz.

STANDARD: In den vergangenen Tagen wurde die Justiz von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ständig angegriffen und ihre Unabhängigkeit infrage gestellt: Stichwort "rote Netzwerke". Was empfinden Sie als oberster Verfassungshüter dabei?

Grabenwarter: Unabhängigkeit der Justiz und Gewaltenteilung gehören zu den Grundprinzipien der Bundesverfassung: Eine politische Diskussion darf kritisieren, sollte aber keinen nachhaltigen Schaden an der Architektur eines Staatswesens anrichten. Das war beispielsweise in den vergangenen Jahren in Polen der Fall. Davon sind wir weit entfernt.

STANDARD: Aber es rückt doch die Justiz in ein schlechtes Licht?

Grabenwarter: Das wird im politischen Diskurs so wahrgenommen. Ohne Details bewerten zu wollen: Manche Meinungen dazu sind entbehrlich.

STANDARD: Inwiefern?

Grabenwarter: Die Justiz hat die Rolle als unabhängiger Hüter der Rechtsstaatlichkeit. Die Betroffenen können sich nicht auf dieselbe Art wehren wie Politiker. Sie müssen immer auf die Wahrung ihrer Rolle achten. Zurückhaltung in dieser Diskussion wäre auch von politischer Seite angebracht.

STANDARD: Was in dieser Debatte auch bekanntgeworden ist, sind sogenannte Mascherlposten. Die jetzige Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) wurde wie ein Oberstaatsanwalt entlohnt, ohne diese Funktion ausgeübt zu haben.

Grabenwarter: Ich bin nicht in der Justiz großgeworden, sondern in der Wissenschaft. Und zum Verfassungsgerichtshof: Bei uns gibt es keine Mascherlposten.

STANDARD: Haben Sie sich beim Durchblättern des Regierungsprogramms an manchen Stellen gedacht: Ui, da kommen wir dran?

Grabenwarter: Ich habe nicht das gesamte Regierungsprogramm gelesen, habe mir aber die Passagen angesehen, die Verfassungsthemen betreffen. Was ein sinnvoller Vorschlag ist: eine mögliche Zuständigkeit bei der Prüfung von Staatsverträgen vor der Ratifikation durch Österreich. Das steht im Zusammenhang mit der Diskussion über die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP. Wir haben ja damals beim ESM-Vertrag – Stichwort Eurorettungsschirm – gemerkt, dass wir zu einem Zeitpunkt befasst wurden, als bereits die Würfel gefallen waren. Es ist für alle Verantwortlichen bis hin zum Bundespräsidenten sinnvoll, die Meinung des Verfassungsgerichtshofes vorher zu kennen.

STANDARD: Ende des Vorjahres haben die Verfassungsrichter mit Mindestsicherung und Sicherheitspaket zwei türkis-blaue Prestigeprojekte aufgehoben. Im neuen türkis-grünen Regierungsprogramm finden sich wieder heikle Punkte, etwa die Sicherungshaft. Bei einem Grundrechtsexperten müssten doch bei einer Präventivhaft alle Alarmglocken schrillen.

Grabenwarter: Ich kenne die Passage im Regierungsprogramm. Was ich nicht kenne, ist ein konkretes Gesetzesprojekt. Daher ist die Debatte spekulativ, was die verfassungsrechtliche Beurteilung betrifft, aber auch was darunter genau verstanden wird.

STANDARD: Anders gefragt: Ist eine Gefährdungsprognose über potenzielle Täter zulässig?

Grabenwarter: Es gibt bereits Teilbereiche der Freiheitsentziehung, bei denen es Prognosen braucht. Bei psychischen Krankheiten oder bei U-Haft sind solche Einschätzungen zu treffen. Das ist oft in die Hände von Richterinnen und Richtern gelegt, die sich dann Gutachtern bedienen.

STANDARD: Das Sicherheitspaket wurde im Dezember erneut aufgehoben. Ein Bundestrojaner steht wieder im Regierungsprogramm. Lernt die Politik nicht dazu?

Grabenwarter: Der Verfassungsgerichtshof hat Bestimmungen aufgehoben, weil der Einsatz von Software zu weit in die Grundrechte eingreift. Auch die Einrichtung eines Rechtsschutzbeauftragten bot keine ausreichende Kontrollmöglichkeit. Was aber nicht festgestellt wurde: dass ein Bundestrojaner für alle Ewigkeit unzulässig ist und verschlüsselte Kommunikation bei bestimmten Delikten mithilfe technischer Möglichkeiten gar nicht überwacht werden kann.

STANDARD: Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich erneut damit befassen müssen, ist groß.

Grabenwarter: Je nach Regierungskonstellation formuliert der Gesetzgeber Tatbestände, die zur Überwachung ermächtigen. Wir müssen immer wieder Stoppschilder aufstellen, wenn Grundrechtseingriffe unverhältnismäßig sind. Wir suchen uns nicht aus, was der Gesetzgeber macht. Wir werden Beschwerden von Bürgern, die sich in ihren Grundrechten auf Datenschutz beschränkt fühlen, weiterhin mit großer Geduld behandeln. Es gibt keinen Grund, warum wir hier müde werden sollten.

STANDARD: Damit Freiheit nicht zugunsten von Sicherheit eingeschränkt wird?

Grabenwarter: Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit muss immer neu bestimmt werden. Die Aufgabe verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist, dafür zu sorgen, dass es nicht zu schleichenden Verschiebungen in die eine oder in die andere Richtung kommt. Die Freiheit muss als hohes Gut gewahrt werden, auch wenn Sicherheitsinteressen auf der Hand liegen und vom Staat verfolgt werden.

STANDARD: Weil wir gerade bei den Grundrechten sind. Es läuft die Debatte, ob Klimafragen auch Grundrechtsfragen sind. In Österreich bringt Greenpeace eine Klage gegen klimaschädliche Gesetze ein. Wie sehen Sie das?

Grabenwarter: Wenn ich richtig informiert bin, bringen die Antragsteller die Klage in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion vor unserem Haus ein. Nach Einlangen eines Gesetzesprüfungsantrages werden wir dem eine Aktenzahl zuweisen. Dann wird dieser Fall wie jeder andere bearbeitet – vielleicht mit neuen Argumenten. Für die Richter ist es eine schöne Herausforderung, mit neuen Argumenten konfrontiert zu werden.

STANDARD: Wird dadurch ein neuer Aspekt in den Grundrechtekatalog aufgenommen?

Grabenwarter: Klima- und Umweltschutzfragen sind nicht erst seit Greta Thunberg eine Frage der Grundrechtsdogmatik. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sehr früh, in den 1980er-, 1990er-Jahren Fluglärm oder Emissionen als Gefährdung für den Schutz des Privatlebens angesehen. Das wichtigste Grundrechtsgericht der Welt hat bereits große Sensibilität gezeigt und vorgelebt, dass Umweltschutzfragen mit Menschenrechten zu tun haben.

STANDARD: Seit diesem Schuljahr gilt für Mädchen bis zehn Jahren ein Kopftuchverbot. Das soll bis zum Alter von 14 Jahren ausgedehnt werden. Ist das nicht eine Ungleichbehandlung einer Religionsgemeinschaft, wenn die Bestimmung nur auf junge Musliminnen abzielt?

Grabenwarter: Zum konkreten Fall, der bei uns anhängig ist, kann ich nur sagen: Es gibt eine Beschwerde von zwei Schülerinnen, die das Kopftuchverbot in Beschwerde ziehen. Die Regierung wurde von uns aufgefordert, Stellung zu nehmen. Es gilt abzuwägen zwischen den Rechten der Schülerinnen auf Entwicklung ihrer Persönlichkeit, Fragen der Religionsfreiheit und den Interessen des Staates.

STANDARD: Anhängig ist auch die Frage, in welchem Umfang der U-Ausschuss zur Casinos-Affäre und Ibiza untersuchen darf ...

Grabenwarter: Die Zuständigkeit des VfGH war Teil des politischen Gesamtkompromisses, als man die Einsetzung von U-Ausschüssen zu einem Minderheitsrecht gemacht hat. Gesetzlich ist uns ein Richtwert von vier Wochen für die Prüfung vorgegeben. Wir wollen das in diesem Zeitraum entscheiden – also im März.

STANDARD: Grundsätzlich gefragt: Lässt die Politik gerne unliebsame Entscheidungen von den Höchstrichtern klären?

Grabenwarter: Faktum ist, dass wir immer wieder Fragen zu entscheiden haben, bei denen der Gesetzgeber früher handeln könnte.

STANDARD: Der VfGH sucht gerade eine Vizepräsidentin. Warum gibt es derzeit nur drei Richterinnen im Kollegium?

Grabenwarter: Da müsste man die Regierungen der letzten 20 Jahre fragen. Es kann nur eine Frau nachfolgen, wenn ein Richter mit 70 aus dem Amt scheidet. Das nächste Mal wäre das erst 2028 der Fall. Es stünde unserem politischen System gut an, würde der Frauenanteil im Verfassungsgerichtshof angehoben werden. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 19.2.2020)