Der Leitfaden "Lass uns reden" der Psychosozialen Dienste soll helfen, das Schweigen über psychische Gesundheit zu brechen. Nun wurde er in einem Seniorentreff ausprobiert – mit gemischten Reaktionen.

Foto: PSD/Tatjana Gabrielli

Die Frau im türkisen Strickpulli schluckt. "Ich will jetzt nicht darüber reden", presst sie hervor und wischt sich die Augen trocken. Kurz später fängt sie sich wieder und erklärt, dass vor kurzem ihr Mann gestorben ist. Sie gibt sich sichtlich Mühe, dem Motto dieses Termins im Pensionistenklub gerecht zu werden: "Wie geht es uns, aber wirklich?".

15 Damen und zwei Herren haben sich in dem Ecklokal in der Gumpendorfer Straße versammelt, um sich anhand eines Leitfadens tiefergehend mit dem Befinden ihrer Mitmenschen zu befassen – und mit dem Thema psychische Erkrankungen.

Jeder Fünfte binnen eines Jahres

Die Psychosozialen Dienste Wien (PSD) luden in Kooperation mit der Bezirksvorstehung zu dieser Gesprächsrunde. Seit Herbst thematisiert der PSD das Thema in einer Kampagne und will damit zur Entstigmatisierung beitragen. Im Laufe eines Jahres hat jeder fünfte Mensch in Österreich eine psychische Erkrankung wie Depression oder Angststörung, zeigen wissenschaftliche Umfragen. Und jeder kennt im Umfeld jemanden, der erkrankt ist.

Der für die Gesprächsrunde ursprünglich reservierte Raum war mit zehn Sitzplätzen zu klein, der Andrang größer als erwartet. Es ist die erste Gesprächsrunde dieser Art und soll der Auftakt für eine Reihe ähnlicher Termine sein. Der Gesprächsleitfaden mit dem Titel "Lass uns reden" wurde bisher vor allem Betrieben vorgestellt, um in Personalabteilungen Beschäftigte dazu zu befähigen, psychische Erkrankungen zu thematisieren.

Bis zur Biscuitroulade

In der Mitte der zusammengerückten Tische, "auf Höhe der Biscuitroulade", die sich eine Dame zum Kaffee gönnt, hat Angela Mach die Versammelten in zwei Gruppen geteilt. Für die Damen und den Herren an der einen Tischhälfte leitet die psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflegerin das Gespräch. An der anderen Tischhälfte reden Teilnehmer mit Kollege Kai Mattersdorfer. Beide arbeiten für den PSD.

Ausschlafen und Ausflug

Mach blättert in dem Fächer aus 22 Themenkarten und fragt: "Wer hat in den vergangenen drei Tagen etwas für sich getan?" Eine Frau mit großer Kurzhaarfrisur meldet sich: "Ich decke mir immer den Frühstückstisch schön", sagt sie. Eine andere Dame gönnt sich langes Schlafen.

Mach fasst zusammen: "Schaut auf euch und erst dann auf andere." Der Herr in der Runde will wissen: "Aber wann ist man ein Egoist?" Die Runde spricht über die im Flugzeug geltende Regel, bei Druckabfall zuerst die eigene Sauerstoffmaske aufzusetzen und erst dann anderen zu helfen.

Notruf in Notlagen

Zuvor haben sich Mach und die Teilnehmenden allgemein ans Thema psychische Gesundheit herangetastet. Wie verbreitet psychische Erkrankungen sind, wie wenig darüber geredet wird, was Stigmatisierung ist und wo es mögliche Anlaufstellen für Betroffene gibt. Mach nennt etwa die Nummer des PSD für Hilfe in psychischen Notlagen (01/313 30).

Zum Schluss versucht sie, Berührungsängste mit Psychotherapie abzubauen. Eine Frau in gestreifter Bluse kritisiert: "Da geht man heraus, und das Problem hat man immer noch." Ihre Sitznachbarin – blondiertes, schulterlanges Haar – erzählt, ein Therapeut habe ihr ganz lapidar geraten, einfach positiv zu denken.

Mehr Tiefe erwartet

Die Dame wird nach Ende der Gesprächsrunde resümieren, sie habe wenig aus alldem mitnehmen können. In den rund eineinhalb Stunden wurden viele Themen nur gestreift. "Mein Problem kam nicht zur Sprache", sagt sie. Seit 19 Jahren habe sie immer wieder Suizidgedanken. Sie erhalte Hilfe bei einer Ärztin, habe sich hier aber trotzdem tiefergehende Gespräche erwartet.

Mach gibt zu, dass die Runde größer war, als es optimal wäre. Die Dame, die sich selbst den Tisch schön deckt, fand das Treffen wiederum bereichernd. "Man muss reden, reden, reden", ist sie überzeugt. Mach und ihr Kollege ließen für dieses Vorhaben einige Gesprächsleitfäden im Pensionistenklub liegen. Sie hoffen, dass die Fragekarten dabei helfen, dass psychische Krisen und Krankheiten mehr zur Sprache kommen. (Gudrun Springer, 20.2.2020)