Kind beim Arztbesuch: Hat die Krankenkasse den Medizinern zu hohe Honorarsteigerungen gewährt?

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Frage: Wie bedrohlich ist das Defizit in der ÖGK, die aus der Fusion der Gebietskrankenkassen entstand?

Antwort: Die 1,7 Milliarden Euro sind nicht fix, sondern eine Prognose – da gelte das Vorsichtsprinzip, sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS): Düstere Annahmen hätten den Zweck eines Frühwarnsystems, um Problemen rechtzeitig gegenzusteuern. In der Vergangenheit bilanzierten die Kassen am Ende stets positiver als vorausgesagt.

Frage: Rote Arbeitnehmervertreter geben den Reformen der türkis-blauen Regierung die Schuld. Zurecht?

Antwort: Als einen zentralen Grund nennt die ÖGK das erwartet flaue Wirtschaftswachstum: Ab 2021 sollen die Versicherungsbeiträge der Beschäftigten schwächer steigen als in den Jahren zuvor. Diese decken folglich zu einem geringeren Maß die wachsenden Ausgaben für Medikamente, Spitäler und Arztleistungen ab. Fakt ist aber auch: Während die Kassen in den letzten Jahren dank Steuergeldzuschüssen gut bilanziert haben, fasste Türkis-Blau Beschlüsse, die die ÖGK Geld kosten – laut Arbeitnehmervertretern über fünf Jahre 724 Millionen.

Frage: Was ist der größte Brocken?

Antwort: Es kommt vor, dass Menschen nach Arbeitsunfällen in normalen Spitälern landen, obwohl die Einrichtungen der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) zuständig sind. Letztere zahlt der ÖGK dafür bis 2022 eine jährliche Kompensation, die ab 2019 bei 209 Millionen eingefroren wurde. Ab 2023 ist die Zahlung gar nicht mehr vorgesehen – eine Entlastung für die AUVA, die gleichzeitig sparen muss, weil Türkis-Blau die Versicherungsbeiträge der Unternehmer gesenkt hat. Laut Arbeitnehmervertretern resultiere für die ÖGK daraus ein Minus von einer halben Milliarde.

Allerdings merkt Czypionka an, dass die AUVA bislang mehr zahlte, als der ÖGK an Kosten entstand: "Das ist eine Quersubvention der ÖGK, deren Sinn man hinterfragen kann." Es ist jedoch möglich, dass es aus rechtlichen Gründen auch nach 2022 noch Zahlungen geben muss – womit sich die Defizitprognose als übertrieben herausstellen würde.

Frage: Und die umstrittene Fusion?

Antwort: Laut Sozialminister Rudolf Anschober betragen die Beraterkosten im Zuge der von Türkis-Blau beschlossenen Fusion im Vorjahr und heuer insgesamt 12 Millionen. Das sei aber noch nicht die ganze Rechnung, sagt Czypionka, so fielen für das Projekt auch noch andere Kosten an, zum Beispiel viele Überstunden: "Eine Fusion kostet am Anfang Geld." À la longue erwartet der Experte aus der Zusammenlegung der Institutionen aber sehr wohl "Synergieeffekte" und damit Einsparungen.

Der ÖGB prangert noch indirekte Folgen an: Zuletzt zahlte die Pharmabranche an die Kassen einen "Solidarbeitrag" von 80 Millionen. 2018 lief dieser aus – und um die Verlängerung habe sich wegen der Fusion niemand gekümmert, lautet die Kritik. Die ÖGK gab auf STANDARD-Anfrage dazu keine Stellungnahme ab.

Frage: ÖVP-Vertreter werfen früheren (roten) Kassenchefs vor, leichtsinnig zu viel Geld ausgegeben zu haben. Ist da was dran?

Antwort: Eigentlich hätte das die von Türkis-Blau verfügte Kostenbremse verhindern sollen, alle Beschlüsse passierten überdies die von Arbeitgebern dominierten Kontrollversammlungen. Die ÖGK kritisiert aber, dass die Gebietskrankenkassen 2018 und 2019 den Ärzten ein Honorarplus von 6,6 und 6,8 Prozent gewährt hätten, während die Steigerung der letzten zehn Jahre im Schnitt nur bei 3,5 Prozent lag – dies sei eine "Hypothek" für die Zukunft.

Daten aus dem Dachverband der Sozialversicherungen, die dem STANDARD vorliegen, weisen für die beiden Jahren hingegen deutlich niedrigere Honorarsteigerungen aus: Die meisten Werte liegen zwischen drei und fünf Prozent, manche sogar darunter. Bei der viel kritisierten Wiener Gebietskrankenkasse betrug das Plus laut dieser Aufstellung im Vorjahr 4,25 Prozent.

Wenn es wo ein großes Plus gab, argumentieren die Arbeitnehmervertreter überdies, dann deshalb, um – etwa in entlegenen Gebieten – überhaupt genügend Kassenärzte zu gewinnen. Ein Heilmittel gegen Ärztemangel? Abgesehen von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten sei die heimische Zunft vergleichsweise gut bezahlt, relativiert Czypionka, oft hapere es an den Bedingungen – etwa flexiblen Arbeitszeiten.

Frage: Statt einem Defizit hat Türkis-Blau eine Patientenmilliarde versprochen. Kommt die denn?

Antwort: Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hält an dem Versprechen fest, der Grüne Anschober hingegen sagt: "Ich sehe sie derzeit nicht." Die ÖGK verspricht für die nächsten fünf Jahre so viel: Indem Leistungen, die je nach Kasse bisher unterschiedlich waren, nach oben angeglichen werden, kommen Patienten 100 Millionen Euro zugute. (Gerald John, 20.2.2020)