Margaret Qualley huldigt als Sekretärin in New York nicht nur dem Nimbus so geheimnisvoller Literaten wie J. D. Salinger.

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Ein bisschen fies ist es schon: Just zur 70. Jubiläumsausgabe der Berlinale durchläuft der Potsdamer Platz, der Knotenpunkt des ganzen Festivals, eine ausgewachsene Identitätskrise. Aus der Shoppingmall neben dem Berlinale-Palast sind die Geschäfte ausgezogen, nur ein paar Cafés rund um die Eingänge sind übrig. Auf der anderen Straßenseite, im Sony-Center, hat eines der Multiplex-Kinos die Rollläden geschlossen, weshalb man dieses Jahr oft durch die Stadt pilgern muss. Man kann es aber auch so sehen: Der Baustellen-Flair passt zu einem Filmfestival, das unter den neuen Leitern Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian nach einer Kurskorrektur sucht.

Beim Eröffnungsfilm, My Salinger Year, stehen allerdings eindeutig Beharrlichkeit und Tradition, nicht Modernisierung im Zentrum. Der Franco-Kanadier Philippe Falardeau hat Joanna Rakoffs Roman in den Büroräumlichkeiten einer Agentur für Schriftsteller inszeniert. An deren nussbraunen Lederstühlen könnte man nie erkennen, dass der Film Mitte der 90er-Jahre spielt. Der prominenteste Autor hat Jahrzehnte lang nichts mehr publiziert: Deshalb ist man vor allem damit beschäftigt, J. D. Salinger, den geheimnisvollen Schöpfer von Der Fänger im Roggen, von lästiger Fanpost und Anfragen abzuschotten und den Mythos zu verwalten.

Augenzwinkernde Erzählung

Auch für Joanna, die in der New Yorker Agentur eine Stelle als Sekretärin antritt, bleibt der Schriftsteller nur "Jerry", ein Schwerhöriger am Telefon, der sie mit kleinen Ratschlägen versieht. Die von der Newcomerin Margaret Qualley, der spleenigen Hippie-Anhalterin aus Quentin Tarantinos Once Upon a Time in … Hollywood verkörperte Heldin nimmt uns bei der Hand und lässt sich von den verstaubten Routinen nicht demoralisieren. Augenzwinkernd erzählt der Film davon, wie sie der von Sigourney Weaver genüsslich autoritär angelegten Chefin kleine Freiräume und schließlich auch ein wenig Respekt entlockt.

Mehr noch geht es My Salinger Year allerdings um den Nimbus einer literarischen Welt, die allen Moden widersteht, selbst wenn sie ihre letzten Meter vor der digitalen Wende durchläuft. Der erste Computer im Büro wird misstrauisch wie ein Alien beäugt; der Lobby des New Yorker, kauzigen Kleinverlegern und Midtown-Lunchs samt Martini gelten die Sympathien. Scharfe Kontraste wird man jedoch keine entdecken. Falardeaus Regie ist ausgleichend und verspielt, er lässt skurrile Fans in die Kamera reden und wartet sogar mit einer Tanzeinlage auf. Die Umbrüche einer Branche spiegeln sich nur milde in Joannas Reifeprozess wider.

Dynamik der Geschichte

Ein charakteristischer Eröffnungsfilm? So könnte man das sagen. Davon, dass Literaten große Widerstände zu bestehen haben, erzählt der Dokumentarfilm Swimming Out Till the Sea Turns Blue besser. Der chinesische Ausnahmeregisseur Jia Zhang-ke porträtiert einmal mehr seine Heimatregion Shanxi, diesmal mit Blick auf Lyriker und Autoren, die in ihren Werken auf die Transformation der einstigen Agrarregion eingegangen sind. Jia lässt sie auf sehr persönlicher Ebene zu Wort kommen und schafft es mühelos, Wort und Bild zu einer Vorstellung von Geschichte zu verknüpfen, deren Dynamik sich erst im Nachhinein erschließt. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 21.2.2020)