Richter in Polen sind an politische Angriffe gewähnt, sagt Ex-Verfassungsrichter Miroslaw Wyrzykowski.

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Wien – Der frühere polnische Verfassungsrichter Miroslaw Wyrzykowski hat im Kampf um die Grundrechte in Polen vor einer "Infektion" Europas gewarnt. "Wenn es weiter schief geht, wird sich diese Infektion einer Verletzung der Verträge auf andere Staaten ausbreiten", sagte Wyrzykowski im APA-Interview in Wien. Noch sei es nicht so weit, "aber es geht erstaunlich leicht. Die Gefahr steht vor der Tür".

Zur Erinnerung: Erst Ende Jänner hat die EU-Kommission einen Antrag beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingebracht, um eine einstweilige Verfügung gegen Polen wegen umstrittener Gesetzesregeln zur Bestrafung regierungskritischer Richter zu erwirken. Dieses Vorgehen steht in Zusammenhang mit einem Vertragsverletzungsverfahren, das die Kommission bereits im April 2019 "zum Schutz polnischer Richter vor politischer Kontrolle" eingeleitet hat.

In dem Konflikt um den Rechtsstaat sei nichts weniger als "das Wesen der Existenz der Europäischen Union" auf dem Spiel, betonte der Warschauer Rechtsprofessor. "Denn die Union ist eine Union des Rechts. Und wenn das Recht verletzt ist, was bleibt dann übrig?" Deshalb habe die EU-Kommission nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur "Selbstverteidigung", forderte Wyrzykowski einen aktiveren Einsatz des Mittels von Vertragsverletzungsverfahren der Brüsseler Behörde gegen Warschau.

"Ausreichend wach"

Als Richter verstehe er die vorsichtige Haltung der EU-Kommission in dieser Frage sehr schwer, "denn es geht nicht immer nur um den Sieg". Es gehe auch um einen Dialog und den Austausch von Argumenten. "Der EuGH kann nicht ex officio (von sich aus, Anm.) entscheiden, er muss einen Antrag haben", sagte der Ex-Höchstrichter. "Ohne eine Initiative werden wir nie wissen, welche Meinung der Europäische Gerichtshof hat."

Doch immerhin sei die EU-Kommission nun "ausreichend wach", um zu wissen, was in dem Konflikt auf dem Spiel stehe, sagte Wyrzykowski. Zu dem von EU-Spitzenvertretern als besonders effektives Mittel gepriesenen Idee, EU-Fördermittel an die Wahrung des Rechtsstaates zu knüpfen, äußerte er sich eher skeptisch. "Wenn die Idee der nationalen Souveränität das Wichtigste ist (für die polnische Regierung, Anm.), dann spielen finanzielle Sanktionen keine Rolle", gab der Ex-Höchstrichter zu bedenken.

Angriffe auf Justiz für Polen "nichts Neues"

Angesprochen auf die Angriffe von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) auf die österreichische Justiz sagte Wyrzykowski: "Wir in Polen sind leider daran gewöhnt, dass etwa ein Justizminister die Richter attackiert. Für uns im Osten ist das nichts Neues." Vor allem die Politiker würden immer versuchen, "die Grenzen zu verschieben, um mehr Platz zu erobern. Und wenn sie nicht gestoppt werden, behandeln sie diesen Platz als wohlerworbenes Gut", sagte er.

Eindringlich warnte der Jurist davor, die Überschreitung von roten Linien zu tolerieren oder als "Arbeitsunfall" zu betrachten. "Haben wir nichts gelernt aus der Geschichte? Die Infektion greift allmählich an und die Krankheit entwickelt sich allmählich", unterstrich Wyrzykowski, der in den 1990er Jahren auch Mitglied des Legislativrates verschiedener polnischer Regierungen war.

"Ohne jegliche Kontrolle"

Hart ging Wyrzykowski mit der rechtskonservativen polnischen Regierung ins Gericht. Sie habe die Richter ins Visier genommen, um "ohne jegliche Kontrolle" politisch tätig sein zu können. "Was in den fünf Jahren (seit dem Amtsantritt der Regierung, Anm.) nicht passiert ist, ist eine Reform der Justiz. Im Gegenteil: Die Verfahren sind jetzt wesentlich länger als vor fünf Jahren", zog er die offizielle Begründung für die "Justizreform" in Zweifel. Zur Argumentation der Regierung, sie schütze im Konflikt mit Brüssel die nationale Souveränität Polens, sagte er trocken: "Ein Staat, in dem die Verfassungsorgane die eigene Verfassung verletzen, ist kein souveräner Staat."

Allerdings habe die Regierung nicht nur Richter als Zielscheiben, sondern auch Ärzte oder Homosexuelle. Besonders dramatisch sei, dass einige polnische Gemeinden sich zu "LGBT-freien Zonen" erklärt hätten. "Das erinnert an die schlimmsten Erfahrungen in der Geschichte Europas", sagte er in Anspielung auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten. Wyrzykowski verwies auch auf die Rolle der in Polen besonders einflussreichen katholischen Kirche. "Es gibt viele Fälle, in denen die katholische Messe eine Fortsetzung der politischen Propaganda ist."

"Politische Schizophrenie" der Polen

Wyrzykowski räumte ein, dass das Verhältnis der Polen zur Europäischen Union etwas von "politischer Schizophrenie" habe. Schließlich ist die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in Polen besonders hoch, während gleichzeitig die umstrittene europakritische Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) erst im Herbst bei den Parlamentswahlen wieder die absolute Mehrheit gewonnen hat. Die Wahlen seien "frei, aber nicht ehrlich" gewesen, sagte er mit Blick auf die Rolle des staatlichen Rundfunksenders als "Transmissionsriemen" der Regierungspartei. Außerdem seien Demokratie und Rechtsstaat "kein Problem des Alltagslebens der Bürger". Diese seien vielmehr zufrieden, weil es Sozialleistungen wie Kindergeld oder ein niedrigeres Pensionsalter gebe. (APA, 23.3.2020)