Didier Reynders ist seit Dezember vergangenen Jahres EU-Justizkommissar.

Foto: AFP/Marin

Bei mehreren Herausforderungen, denen sich die neue EU-Kommission stellen muss, laufen die Fäden im Büro des Justizkommissars zusammen. Sorge um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn gehört ebenso dazu wie Konsumentenschutz im Zeitalter der Digitalisierung.

STANDARD: Das Thema Rechtsstaatlichkeit ist derzeit in aller Munde. Warum ist das so?

Reynders: Wir haben auf dem Gebiet eine Krise. Innerhalb weniger Jahre gab es in einigen Mitgliedsstaaten Entwicklungen, bei denen die Unabhängigkeit der Justiz, der Kampf gegen Korruption oder das Bekenntnis zum Medienpluralismus zu wenig Beachtung fanden. Die Situation in Polen etwa bereitet mir mehr und mehr Sorgen. Wir müssen zeigen, dass das kein nationales Problem ist, sondern ein europäisches. Und dass ein Richter in einem EU-Land immer auch ein europäischer Richter ist.

STANDARD: Es gibt Pläne, die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtlicher Standards zu knüpfen. Wie soll das gehen?

Reynders: Es gibt einen Vorschlag der Europäischen Kommission, der besagt: Es muss möglich sein, Zahlungen zu stoppen, wenn in einem Mitgliedsstaat die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit grob verletzt werden. Die Frage ist, mit welcher Art von Mehrheit man das im Einzelfall beschließen kann. Die Kommission ist für eine umgekehrte qualifizierte Mehrheit. Das heißt, dass ein entsprechender Vorschlag nur dann abgelehnt werden kann, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten dagegen ist.

STANDARD: Warum reichen aber normale Verfahren am Europäischen Gerichtshof nicht aus?

Reynders: Wir müssen zusätzliche Instrumente schaffen, insbesondere einen neuen Rechtsstaatsmechanismus. Die Kommission wird einen jährlichen Bericht über Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsländern erstellen, nach klar definierten Regeln. Das ist erstens eine Antwort auf den Vorwurf, dass mit zweierlei Maß gemessen werde, dass man etwa immer nur Polen und Ungarn ins Visier nehme. Der zweite Grund ist, dass wir im Bereich der Rechtsstaatlichkeit eine neue Diskussionskultur brauchen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass unabhängige Gerichte und der Kampf gegen Korruption für sie von zentraler Bedeutung sind.

STANDARD: Was versprechen Sie sich von der Europäischen Staatsanwaltschaft, die derzeit aufgebaut wird?

Reynders: Ein wichtiger Punkt ist der Kampf gegen den Missbrauch von EU-Geldern. Die designierte Chefin Laura Kövesi wird Ermittlungen auf europäischer Ebene organisieren können. Dass Polen und Ungarn die Teilnahme verweigert haben, hat übrigens die Diskussion über die Junktimierung von Rechtsstaatlichkeit und EU-Geldern überhaupt erst ausgelöst. Vor allem Nettozahler wie Österreich klagen ja häufig über Betrügereien mit Geld aus dem gemeinsamen EU-Budget.

STANDARD: Nicht nur Polen und Ungarn verweigern die Teilnahme. Auch Schweden macht nicht mit.

Reynders: In Schweden und einigen anderen Ländern kann man eine traditionell zögerliche Haltung zu manchen Themen beobachten – etwa auch bezüglich des Beitritts zur Währungsunion. Was die Europäische Staatsanwaltschaft betrifft, so gibt es in Schweden derzeit aber den Versuch, die Gesetzgebung zu ändern und doch beizutreten.

STANDARD: Sie sind auch für Konsumentenschutz zuständig. Was haben Sie sich in diesem Bereich vorgenommen?

Reynders: Ein wichtiges Ziel ist es, die Konsumenten am Green Deal teilnehmen zu lassen. Dazu brauchen sie korrekte Informationen über die Nachhaltigkeit der Dinge, die sie kaufen. Wir müssen also das "Grünwaschen" von Produkten bekämpfen – die Schaffung eines umweltfreundlichen Images, das nicht der Realität entspricht. Auch der Kampf gegen vorzeitigen Verschleiß, etwa von elektronischen Geräten, gehört hier dazu.

STANDARD: Stichwort "elektronische Geräte": Spielt beim Thema Konsumentenschutz auch die Digitalisierung an sich eine Rolle?

Reynders: Nehmen wir das Problem der künstlichen Intelligenz: Wenn ein selbstfahrendes Auto in einen Unfall verwickelt wird – schützt sein Algorithmus dann die Menschen im Auto oder die Menschen draußen? Und wenn es keinen Fahrer gibt, wer ist dann verantwortlich? Der Autobesitzer? Der Hersteller? Der Programmierer des Algorithmus? Diesen Fragen müssen wir uns stellen. Letztlich geht es immer um Vertrauen: Ohne Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten gibt es keine Union. Ohne Vertrauen zwischen Bürgern und Verwaltung können wir die Gesellschaft nicht organisieren. Und wenn es zwischen Konsumenten und Produzenten kein Vertrauen gibt, dann ist das ein Problem für beide. (Gerald Schubert, 24.2.2020)