Das Turnsackerl steht in dieser Kolumne für den Sportunterricht und die öffentliche Debatte darüber.

Foto: Christian Fischer

Derzeit gibt es die tägliche Bewegungseinheit nur an Ganztagsschulen. Für alle anderen Schulen heißt es "bitte warten".

Foto: Heribert Corn

Turnsackerln sind hip geworden. Die Stofftasche mit Zugschnur gibt es aber nicht erst, seit sie Hipster passend zu Röhrenjeans und Hornbrille am Rücken tragen. Seit Jahrzehnten ist sie ein fixes Accessoire für Schülerinnen und Schüler, die darin Leiberl, Hose und Schuhe zum Sportunterricht bringen. Das Turnsackerl steht in dieser Kolumne für den Sportunterricht.

Der kommt hierzulande in der öffentlichen Debatte vor allem dann vor, wenn Spitzensportler bei Olympia keine Medaillen holen oder wenn neue Studien zeigen, wie dick Kinder und Jugendliche sind. Der Anspruch an die Schulen ist damit recht hoch: Sie sollen dafür sorgen, dass "wir" wieder Medaillen machen und dass "die Jugend" abnimmt.

Nur zehn Minuten Bewegung pro Unterrichtsstunde

Brigitta Höger ist Sportdidaktikerin am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien. Sie hält beide Ansprüche für unerfüllbar. "Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass sich die Kinder in einer 50-Minuten-Einheit oft nur zehn Minuten lang tatsächlich bewegen." Der Rest geht für Vorbereitungen, Erklären von Regeln und Wegräumen drauf.

Je nach Schultyp und Alter sind an Österreichs Schulen zwischen fünf und zwei Wochenstunden "Bewegung und Sport" vorgesehen. Es ist also nicht möglich, übergewichtige Kinder im Turnunterricht schlank zu kriegen. "Die unterschwellige Botschaft, dass das Kind zu dick ist, sorgt auch eher für Scham, nicht für Motivation", sagt Höger.

Österreicher bewegen sich wenig

"Es geht darum, dass sich die Kinder und Jugendlichen gerne bewegen und darin einen Sinn für sich finden." Wichtig seien zudem die Vermittlung von Spielerfahrungen und Gesundheit, soziales Lernen und persönlicher Ausdruck sowie die Entwicklung von Selbstkompetenz und Körperwahrnehmung. Für Didaktikerin Höger sorgt Sportunterricht im Idealfall dafür, dass Schüler eine große Breite an Möglichkeiten für Bewegung vorgestellt bekommen und etwas finden, das ihnen Spaß macht und das sie dann auch im Erwachsenenalter fortführen.

Hier besteht Aufholbedarf: Die Österreicher bewegen sich nämlich nicht gerade viel. Nur etwa die Hälfte erfüllt die OECD-Empfehlung und treibt pro Woche 150 Minuten Sport, Fitness oder eine andere körperliche Aktivität in der Freizeit. Das wirkt sich auf die Gesundheit aus. Frauen verbringen 56,8 gesunde Lebensjahre, Männer 57,4. Österreich ist damit weit unter dem Durchschnitt innerhalb der EU (Frauen: 64 Jahre, Männer 63,5 Jahre).

Ziel: Tägliche Bewegungseinheit an Schulen

Die türkis-grüne Regierung will mit einer täglichen Bewegungseinheit an Schulen Abhilfe schaffen. "Wenn man den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern früh und langfristig unterstützt, erhöht sich die Chance, dass sie ein Leben lang aktiv bleiben", sagt der Sprecher von Vizekanzler und Sportminister Werner Kogler (Grüne). Die Hoffnung ist, dass die Österreicher länger gesund bleiben und so das Gesundheitssystem entlasten.

Derzeit ist die tägliche Bewegungseinheit nur an Ganztagsschulen verpflichtend, eine flächendeckende Einführung haben schon viele Regierungen versprochen. Umgesetzt hat sie noch keine. Kindergärten und Schulen können derzeit am Programm "Kinder gesund bewegen" für Zwei- bis Zehnjährige teilnehmen. Bei dieser Initiative halten Trainer eine zusätzliche Bewegungseinheit pro Woche ab.

Laut dem Sprecher Koglers ist es das Ziel der Regierung, dieses Programm flächendeckend für alle Schulen und Schüler jeden Alters einzuführen. Das würde aber nicht bedeuten, dass täglich eine Bewegungseinheit im Turnsaal stattfinden muss.

Trainer unterrichten

Das Ziel könnte auch dadurch erreicht werden, dass sich die Kinder und Jugendlichen neben der zusätzlichen Einheit über "Kinder gesund bewegen" zweimal pro Tag fünf Minuten am Beginn einer Schulstunde gemeinsam "aktivieren oder entspannen" – das ergibt dann eine weitere Schulstunde Bewegung pro Woche. Zumindest für Volksschulen, Neue Mittelschulen und die Unterstufe ergibt sich daraus in Summe eine "tägliche Bewegungseinheit".

Die Initiative "Kinder gesund bewegen" wird von den Dachverbänden der österreichischen Sportvereine geleitet – ihre Trainer besuchen die Schulen. "Der Clou ist, dass die Vereine so auch Talente entdecken können", sagt der Sprecher Koglers.

"Vereine machen das nicht uneigennützig"

Womit wir wieder beim Stichwort Spitzensport wären. Didaktikerin Höger, die das Pilotprojekt "Tägliche Bewegungs- und Sporteinheit" gemeinsam mit Lehrer Clemens Berthold und dem Sportwissenschafter Konrad Kleiner im Burgenland evaluiert hat, sieht den Einsatz von Trainern ambivalent. "Bewegungscoaches verfügen über eine hohe sportspezifische Kompetenz, aber im Vergleich zu Lehrkräften kaum über eine pädagogische Ausbildung." Zudem wäre es schade, wenn manche vor allem Werbung für Vereine machen würden.

Sportlehrer Berthold, der an einem Wiener Gymnasium unterrichtet, pflichtet ihr bei. "Die Vereine machen das ja nicht uneigennützig." Auch er verweist auf die tiefer gehende pädagogische Ausbildung der Lehrer. "Man sollte Sportunterricht nicht mit Training verwechseln. Es geht dabei auch um die Sozial- und die Selbstkompetenz der Schüler."

Frage des Geldes

Die tägliche Bewegungseinheit ist vor allem eine Frage des Geldes. Lehrer kosten mehr als Trainer. Würde das Projekt "Kinder gesund bewegen" flächendeckend umgesetzt, beliefen sich die Kosten auf 111 Millionen Euro pro Jahr.

Im aktuellen Budget hat die Regierung das Projekt noch nicht vorgesehen, es könnte also frühestens 2022 starten. "Es wird ein starkes politisches Bekenntnis brauchen, um dieses Vorhaben lückenlos umzusetzen", sagt der Sprecher Koglers. Das Sportressort könne das Projekt jedenfalls unmöglich allein stemmen, verweist er auf Bundesländer, Gemeinden und das Bildungsministerium. Dort heißt es zum STANDARD nur, dass noch keine Verhandlungen gestartet haben und die Finanzierung noch unklar ist.

Schüler wählen lassen

Es ist also möglich, dass auch diese Regierung die flächendeckende tägliche Bewegungseinheit nicht umsetzen wird. Den Turnunterricht besser machen, das geht allerdings auch ohne viel Geld. Didaktikerin Höger empfiehlt, auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler einzugehen. Nicht jeder müsse technisch perfekt über einen Kasten springen können, sondern könne seine Leistung für sich steigern. Sportlehrer könnten das Selbstbewusstsein ihrer Schüler fördern, indem sie ihnen helfen, individuelle Fortschritte zu machen und Wege zu finden, den Kasten zu überwinden.

Da die Schüler so unterschiedlich seien, müsse man auch den Unterricht vielfältig anlegen, sagt auch Sportlehrer Berthold. "Das heißt nicht, dass jede Stunde anders sein muss, aber man sollte freies Spiel, Übungszeit und Leistung zeigen abwechseln." Wenn seine Schüler Fertigkeiten wie etwa Bodenturnen zeigen sollen, lässt er sie aus einem Programm von mehreren Übungen drei aussuchen und dann präsentieren. "Das muss dann nicht für alle das Rad sein, sondern kann für manche eben die Rolle vorwärts sein."

Didaktikerin Höger sagt: "Es geht darum, zu zeigen, dass ich mich bewegen kann. Egal ob ich dick oder dünn oder schwach oder stark bin." Manchmal müsse sich eben der Sport an die Schüler anpassen und nicht die Schüler an den Sport. (Lisa Kogelnik, 24.2.2020)