Ein junger Yanomami, der an Masern erkrankt ist, wird im brasilianisch-venezolanischen Grenzgebiet von Schamanen und der katholischen Mission behandelt.

Foto: Claudia Andujar

Aus großer Höhe wirkt das Grenzgebiet von Brasilien und Venezuela, als hätten zwei zwielichtige Götter ein gigantisches Hütchenspiel am Laufen. Der eine verspricht verborgenen kulturellen Reichtum, der andere deckt auf: Die Hütchen sind in Wirklichkeit große runde Hütten, die gemeinschaftlich zum Schlafen benutzt werden. Wer den neugierigen Gott spielt und unter die Dächer schaut, wird bemerken: Nur ein Bruchteil dieser Malokas genannten Unterkünfte ist bewohnt.

Zum einen verlassen die Yanomami regelmäßig ihre Malokas und ziehen weiter, weil der Regenwaldboden nur eine Zeitlang fruchtbar bleibt. Zum anderen sind die Yanomami, bis heute die größte indigene Volksgruppe am Amazonas, akut von äußeren Einflüssen bedroht.

Gefährdet

Ein Gebiet größer als Österreich (rund 94.000 Quadratkilometer) wurde ihnen zwar 1991 per Dekret überlassen. Es ist geschütztes Territorium, zu dem Nichtindigene nur per Sondergenehmigung Zutritt haben, und doch: Das Leben, wie sie es kennen, ist in Gefahr: In den 1950er-Jahren kamen die ersten Invasoren in der Gestalt christlicher Missionare; in den 70ern begann der Bau der Bundesstraße Perimetral Norte, die den Regenwald hier wie ein Schnitt mit stumpfem Messer entstellt; in den 80ern schließlich wurde auf dem Territorium Gold, Uran und andere Bodenschätze entdeckt.

Bis zu 65.000 Garimpeiros, illegale Goldgräber, fielen in den 1980er-Jahren in das Gebiet ein, vergewaltigten Yanomami-Frauen und erschossen die Männer. In nur sieben Jahren starben damals 20 Prozent der Yanomami, schätzt die Menschenrechtsorganisation Survival International.

Bis heute halten sich dort rund 6.000 Garimpeiros ohne Einspruch durch die Regierung permanent auf. Sie jagen das Wild der Yanomami, plündern ihre Felder und hinterlassen verseuchtes Grundwasser. Das Quecksilber, das sie zum Goldwaschen benötigen, vergiftet das Trinkwasser, die Tümpel in den Schürfgebieten haben die Anophelesmücke angezogen.

Ein Gemeinschaftshaus der Yanomami in der Nähe des Flusses Catrimani. Die Fotos von Claudia Andujar wurden im Jahr 1976 mit Infrarotfilm aufgenommen.
Foto: Claudia Andujar

In der früher weitgehend malariafreien Gegend sollen mittlerweile 70 Prozent der Yanomami an Malaria erkrankt sein. Über die Straße kamen noch andere Krankheiten, wie die Grippe und die Masern, die für die Indigenen häufig den Tod bedeuten.

Die Unkontaktierten

Die mit anderen Kulturen bereits vertrauten Yanomami, die rund 38.000 Angehörige zählen, berichten bis heute von zufälligen Begegnungen mit noch unkontaktierten Vertretern ihrer Ethnie. Und sie ziehen ihre eindeutigen Schlüsse daraus: Besser in Ruhe lassen, sonst ergeht es ihnen wie uns. Gleichzeitig ist in Reiseblogs immer öfter von der "Kontaktaufnahme" mit bedrohten Völkern zu lesen.

Im Fall des Amazonasgebiets geben sich manche Touristen sogar als Teil einer wissenschaftlichen Expeditionsgruppe aus, um die Sondergenehmigung für die Einreise in das Yanomami-Territorium zu erhalten. Es stellt sich hier deutlicher als anderswo die Frage: Ist das wirklich eine gute Idee? Ist es sinnvoll und nötig, in die letzten Rückzugsgebiete der Erde einzudringen, selbst wenn die Absichten keine schlechten sind?

Einer, dem man diese Frage stellen kann, ist Davi Kopenawa. Der Yanomami lebt im Amazonasgebiet im Dorf Watoriki. Die Gemeinschaftshütte, die er mit seiner Familie teilt – das sind alle Menschen, die in dem Dorf leben – gleicht eher einem riesigen Donut als einem Hütchen. Denn große Hütten, die für bis zu 400 Menschen Schlafplatz sind, werden als überdachter Ring gebaut.

"Ich habe Claudia Andujar nicht eingeladen. Sie ist trotzdem gekommen, um uns zu warnen." Davi Kopenawa, Yanomami-Sprecher
Foto: Fondation Cartier / Edouard Caupeil

Kopenawa nimmt in Watoriki eine wichtige Stellung ein. Er ist zwar nicht der Chef der Gemeinschaft, weil die Yanomami solche hierarchischen Strukturen nicht kennen, doch er ist ihr Schamane. Die Yanomami glauben, dass jedes Lebewesen, jeder Stein, jeder Baum und jeder Berg einen Geist besitzt.

Kontrolliert werden diese Geister durch den Schamanen, der ein Halluzinogen aus dem Urwald inhaliert, um mit ihnen zu kommunizieren. Der Mittsechziger erfüllt seit den späten 1980er-Jahren aber noch eine weitere Aufgabe für die Yanomami: Er ist ihr wichtigster Sprecher.

Krasser Widerspruch

"Ich habe einige Menschen nach Watoriki kommen gesehen", sagt er. Auch bei ihm im Dorf wüteten die Goldgräber und töteten Menschen. Danach kamen Mitarbeiter der Funai, die sich um die Einhaltung der in der brasilianischen Verfassung festgeschriebenen Rechte indigener Völker bemühen. Nach der Ernennung Jair Bolsonaros zum Präsidenten Brasiliens im Jahr 2019 zog sich die Funai allerdings vom Amazonas zurück.

Bolsonaro favorisiert die landwirtschaftliche Nutzung des Gebiets, was im krassen Widerspruch zu den Aufgaben der Funai steht. Immerhin kommen noch Mitarbeiter von Survival International, einer NGO, die sich weltweit für Indigene einsetzt.

Touristen hätten sich noch nie nach Watoriki verirrt, meint Kopenawa. Ob er etwas dagegen hätte, ein paar zu empfangen? "Es kommt darauf an, was sie suchen", antwortet er ausweichend. "Etwas aus dem Wald mitzunehmen würden wir ihnen nicht erlauben. Wer nur kommt, um nachzuschauen, wie wir leben, ist aber willkommen", ergänzt er.

Die erste Reise

Kopenawa kann sich noch gut an seine erste eigene Reise erinnern. 1989 führte sie aus seinem Dorf hinaus nach Manaus. In der Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas habe er zum ersten Mal Nichtyanomami von den Sorgen seines Volkes erzählt, sagt er.

Bald darauf folgte eine Einladung von Survival International nach London, mittlerweile ist er mit dem Auftrag, für seine Leute zu sprechen, um die halbe Welt gereist. Fast ebenso gut wie an die beschwerliche Reise nach Manaus erinnert er sich an die erste Frau, die 1971 aus dem Nichts nach Watoriki kam: Claudia Andujar.

"Die Yanomami sagen, dass wir ans Ende der Welt gelangen. Ich versuche, dem Ende entgegenzuwirken." Claudia Andujar, Fotografin
Foto: Fondation Cartier / Edouard Caupeil

An diesem Vormittag sitzt die 88-Jährige Kopenawa in einer Ausstellung in Paris gegenüber. Sie sieht sich ein Interview auf einem Bildschirm an, das sie zu einer Zeit in São Paulo gegeben hat, als ihr das Reden leichter fiel. Sie ist vom Alter gezeichnet, das Sortieren der Gedanken fällt ihr schwer, doch sie scheint das aufgezeichnete Gespräch zu genießen, ebenso wie die Anwesenheit von Kopenawa in Paris.

Er wirft ihr einen freundlichen Blick zu und sagt über sie: "Ich habe sie damals nicht nach Watoriki eingeladen. Sie ist trotzdem gekommen, und das war wichtig. Sie hat uns schon vor 50 Jahren gewarnt vor den Dingen, die noch kommen werden."

Fotografische Dokumentation

Dass die beiden jetzt wieder aufeinandertreffen, hat einen Grund. Die Cartier-Stiftung widmet Claudia Andujar gerade eine Ausstellung für ihr Lebenswerk. Andujar wird 1931 in der Schweiz geboren, ihre Kindheit verbringt sie in Rumänien und Ungarn. 1944 werden ihr Vater und die meisten jüdischen Verwandten väterlicherseits im KZ Dachau ermordet.

1945 flieht sie in die USA, seit 1955 lebt sie in São Paulo in Brasilien. 1956 reist sie erstmals zu einem indigenen Volk, das sie für ein brasilianisches Magazin fotografiert. Ein befreundeter Fotograf "empfiehlt" ihr später die Recherche bei den Yanomami. Deren Schicksal beschäftigt sie bis zum heutigen Tag.

Ein Yanomami-Mädchen badet im Fluss Catrimani im Amazonas-Gebiet. Sie trägt Schmuckstifte in der Unterlippe.
Foto: Claudia Andujar

Andujar dokumentiert in ihren Fotografien nicht nur das Scheitern der Yanomami im Kontakt mit der Außenwelt, sondern ergreift auch Partei, versucht dem Untergang entgegenzuwirken. Die Parallelen zur eigenen Biografie sind unübersehbar: In den 1980er-Jahren entsteht eine Porträtserie der Yanomami für Impfpässe, die sie aus pragmatischen Überlegungen mit Nummern versieht.

Kritiker erinnert das an die Nummerierung von KZ-Insassen vor der Ermordung. Andujar entgegnet: "Ich habe die Yanomami für das Leben, für das Überleben markiert."

Verständnis des Universums

Auf einem Bildschirm in der Ausstellung laufen Präsident Bolsonaros verächtliche Aussagen über die Indigenen in Dauerschleife. Daneben sind Zeichnungen der Yanomami ausgestellt. Wie eine akribische Ethnologin hat Andujar viele unterschiedliche Dorfgemeinschaften gebeten, ihr Verständnis des Universums mit Filzstiften zu visualisieren.

Immer wieder taucht der harmonische Kreis der Maloka auf: die Hütte als Dorf und als gesamter Erdkreis. Bolsonaros grausamstes Zitat will man hier offenbar niemanden zumuten: "Es ist eine Schande, dass die brasilianische Kavallerie nicht so effektiv war wie die Amerikaner, die ihre Indianer ausgerottet haben", sagte er einmal einer brasilianischen Zeitung.

Aus der Distanz

Thyago Nogueira, der Kurator der Ausstellung "Claudia Andujar, Der Kampf der Yanomami", bestätigt, dass es unter Bolsonaro erst so richtig schlimm geworden ist für die Yanomami. Er lebt wie Andujar in São Paulo, war aber noch nie im Siedlungsgebiet der Indigenen. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich aus der Distanz mit ihrem Schicksal.

Wäre es da nicht klüger, wenn auch Touristen ganz bewusst Distanz hielten? Er hat keine einfache Antwort parat, aber eine interessante Überlegung: "Wir müssen uns vom Gedanken der kulturellen Isolation verabschieden.

Davi Kopenawas Sohn lebt zwar isoliert, er setzt sein Smartphone aber erfolgreich für die Sache der Yanomami ein", meint er und weiter: "Wer sagt, dass es die Yanomami nicht in Zukunft ähnlich wie die Japaner machen: Nach außen hin sind sie technisch versiert, ihre alte Kultur haben sie in ihrem Inneren bewahrt."

Ein spannender Gedankengang. Doch bis es so weit ist, erscheint es klüger, das Leben am Amazonas auf einem asiatischen Bildschirm in Paris zu verfolgen. (Sascha Aumüller, RONDO, 28.2.2020)