Binge-Eating heißt Essen ohne Kontrolle – etwa abends oder wenn man alleine ist. Die Therapie ist immer vielschichtig. Im Zentrum steht die Psychotherapie.
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STANDARD: Wie unterscheidet sich Binge-Eating von der Bulimie oder der Night-Eating-Disorder?

Argeny: Die Störung ist gekennzeichnet durch Essanfälle und den damit verbundenen Kontrollverlust, der aber nicht kompensiert wird. Bei der Bulimie wird die Essattacke mit Erbrechen, Sport oder Abführmitteln kompensiert, beim Binge-Eating gibt es das nicht. Deshalb nehmen Betroffene meistens stark zu, viele der Erkrankten sind adipös. Zwischen 20 und 30 Prozent der adipösen Menschen leiden auch am Binge-Eating-Syndrom, und 30 bis 40 Prozent der Menschen mit Binge-Eating sind adipös. Ein weiteres Kennzeichen ist, dass die Essanfälle sehr mit Scham- und Schuldgefühlen besetzt sind, deshalb finden sie häufig abends statt, wenn die Betroffenen alleine sind oder der Partner schläft. Im Gegensatz zur Night-Eating-Disorder kann es im Prinzip aber immer zu solchen Essanfällen kommen.

STANDARD: Binge-Eating gilt als häufigste Essstörung. Wie hoch ist die Erkrankungsrate?

Argeny: Binge-Eating ist noch ein relativ junges Krankheitsbild, eine Definition gibt es erst seit 1994. Deshalb haben wir noch nicht so viele Daten darüber. Im ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Anm.) ist Binge-Eating noch gar nicht als eigenständiges Krankheitsbild enthalten. Im ICD-11, der voraussichtlich im Jänner 2022 herauskommen wird, wird Binge-Eating aber als eigenständige Erkrankung anerkannt sein. Schätzungen gehen von einer Prävalenz zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung aus.

STANDARD: Was triggert einen Essanfall?

Argeny: Manchen Betroffenen ist bewusst, dass sie damit bestimmte Gefühle wie Stress oder Ärger regulieren. Andere berichten wiederum davon, dass sie damit jegliches intensive Gefühl – egal ob positiv oder negativ – mit dem Essen kompensieren. Zudem tritt Binge-Eating häufig gemeinsam mit Depressionen und Angststörungen auf. Außerdem spielen Sucht und zwanghafte Aspekte eine Rolle.

STANDARD: Ist Binge-Eating ein Spiegel unserer Gesellschaft?

Argeny: Binge-Eating könnte man als Essstörung unserer Zeit verstehen. Wir vermuten, dass sie mit dem Unterdrücken von Gefühlen, steigendem Leistungsdruck oder dem Versuch, der Gesellschaft zu entsprechen, assoziiert ist. Dadurch baut sich weiterer Druck auf, der mit Essen abgebaut wird. Essen dient also der Entlastung. Von Binge-Eating sind deshalb auch deutlich mehr Männer betroffen als etwa von Bulimie oder der Anorexie. Was noch auffällt: Binge-Eating tritt am häufigsten ab einem Alter von 30 Jahren auf, kann aber auch 50-Jährige betreffen. Die Erkrankten sind also deutlich älter als bei der Anorexie und Bulimie.

STANDARD: Essstörungen bleiben häufig sehr lange vom sozialen Umfeld der Betroffenen unentdeckt. Wie ist das beim Binge-Eating?

Argeny: Bei der Bulimie kommt es vor, dass Betroffene die Essstörung über Jahrzehnte vor ihrem Partner verstecken. Dadurch, dass Binge-Eating meist zu einer starken Gewichtszunahme führt, kann es nicht so leicht geheim gehalten werden. Allerdings wird es dann häufig als emotionales Essen heruntergespielt. Es ist aber keine Willensschwäche, sondern es sind die Impulskontrolle und Reaktionen auf Nahrungsmittel sowie die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung tatsächlich biologisch gestört.

STANDARD: Kündigen sich die Essanfälle an?

Argeny: Teilweise sind sie geplant, zum Teil steht auch die Impulshaftigkeit im Vordergrund. Es gibt auch noch das Phänomen des "Grazing", etwa die ständig Aufnahme von kleineren Nahrungsmengen über den ganzen Tag. Sicher ist, dass Betroffene ihre Essanfälle nicht gezielt steuern und einfach aufhören können. Teilweise essen die Betroffenen bis zur Schmerzgrenze. Binge-Eating ist eine schwere psychiatrische Erkrankung.

STANDARD: Wie kommen die Patienten in die Therapie?

Argeny: Meist über Umwege, da sie wegen anderer gesundheitlicher Probleme wie Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhte Blutfette oder Stoffwechselprobleme in Behandlung sind. Ein aufmerksamer Hausarzt erkennt das Problem und vermittelt dann den Kontakt zu Spezialeinrichtungen für Essstörungen. Viele Betroffene suchen auch direkt Hilfe auf, weil der Leidensdruck so groß ist. Die Verleugnung, die wir bei der Anorexie beobachten, ist beim Binge-Eating deutlich geringer vorhanden.

Christof Argeny ist Psychiater, Psychotherapeut und Leiter von Sowhat, dem Wiener Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen.
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STANDARD: Wie wird therapiert?

Argeny: Es gibt nicht die eine Therapie, sondern wir arbeiten multimodal, also psychotherapeutisch, psychiatrisch, psychoedukativ, diätologisch und medizinisch. Wir sehen die Essstörung auch als Lösungsversuch der Seele, um andere Konflikte, die der Betroffene in sich trägt, zu bewältigen. Häufig handelt es sich um Menschen, die traumatisiert sind oder in der Kindheit vernachlässigt wurden. Deshalb ist es auch wichtig, die zugrunde liegenden Konflikte zu bearbeiten. Die Hauptsäule ist die Psychotherapie, gleichzeitig arbeiten wir an der Emotions- und Spannungsregulation sowie der Impulskontrolle. Fast 80 Prozent der Betroffenen leiden noch an einer weiteren psychiatrischen Erkrankung.

STANDARD: Wie ist die Prognose?

Argeny: Die Prognose ist um einiges besser als bei Anorexie und Bulimie. Nach fünf Jahren leiden nur mehr etwa 20 Prozent der Patienten an ihrer Krankheit. Dadurch, dass es sich um ein relativ junges Krankheitsbild handelt, haben wir aber noch keine epidemiologischen Daten, die sich über Jahrzehnte erstrecken. (Günther Brandstetter, 28.2.2020)