Bei den Beschäftigten in der Sozialwirtschaft ist der Druck hoch. Die Gewerkschaften machen Druck bei ihrer Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen.

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Rar sind sie, aber es gibt sie doch: Streiks in Österreich. Derzeit kommt es rund um die verfahrenen Lohnverhandlungen in der Sozialwirtschaft (SWÖ) nachgerade zu einer Häufung: Was die Streiktage betrifft, ist Österreich vor den Schweizern europaweit Schlusslicht. Aktuell geht es um einen speziellen Fall: Die Beschäftigten in der Sozialbranche gehen für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich auf die Barrikaden. Wirtschaftskammerchef Harald Mahrer malte in der ORF-Pressestunde den Teufel an die Wand. Die Forderung der Gewerkschaft könne man nur als Vorstoß Richtung Arbeitszeitverkürzung verstehen. "Wir werden in Österreich mit einer generellen Arbeitszeitverkürzung das Licht abdrehen. Dann können wir uns alle weiße Leintücher umhängen und geordnet zum wirtschaftspolitischen Friedhof marschieren."

Im Ringen um eine Lösung bei den KV-Verhandlungen in der Sozialwirtschaft greifen die Gewerkschaften zu plakativen Maßnahmen. Am Donnerstag in der Früh entrollten sie im Rahmen der zweitägigen Streikmaßnahmen ein Großtransparent an der Fassade der Senecura-Zentrale in Wien-Leopoldstadt.
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Wifo-Chef Christoph Badelt geht dennoch davon aus, dass das Ansinnen in der Pflegebranche früher oder später von Erfolg gekrönt sein wird, "weil es dringend geboten ist, die Arbeitssituation zu verbessern". Man wird sehen. Interessant ist der Konflikt aber auch in anderer Hinsicht. Ganz grundsätzlich stellt sich erneut die Frage: Wie gut funktioniert die Sozialpartnerschaft? Ist die aktuelle Auseinandersetzung nach der Schwächung der Arbeitnehmervertretung in der Sozialversicherung und deren Ausbooten rund um die Arbeitszeitflexibilisierung unter Türkis-Blau etwa schon der Vorbote für den nächsten sozialpartnerschaftlichen Konflikt? Und das unter Regierungsbeteiligung der Grünen?

Alte Wunden

Sicher ist, die Wunden sind nicht verheilt. "Die Entmachtung der Arbeitnehmer in ihrer eigenen Sozialversicherung wurde von den Sozialpartnern nicht einmal diskutiert, sondern von Türkis-Blau dekretiert. Auch mit dem Zwölfstundentag hat die alte Regierung klargemacht, dass sie von sozialpartnerschaftlichen Kompromissen wenig hält", sagt Barbara Blaha, SPÖ-Abtrünnige und als Gründerin des Momentum-Instituts gefragte politische Nichtpolitikerin.

Allzu gut erinnert man sich an die heftige Debatte über den Zwölfstundentag, der gegen den Willen der Grünen und Roten eingeführt wurde. Was die Flexibilisierung dem Standort Österreich gebracht hat, könne man wissenschaftlich seriös nicht sagen, so IHS-Chef Martin Kocher. Es gäbe dazu keine entsprechenden Daten. Man sei auf die Theorie angewiesen: "Mehr Arbeitszeitflexibilität muss per Definition zu größerer Profitabilität und höherer Wettbewerbsfähigkeit führen, weil Unternehmen Nachfragespitzen besser ausgleichen können."

Schon unter Schwarz-Blau I erkaltete die Leidenschaft für die Sozialpartnerschaft.
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Die Sache ist aber ohnehin gegessen: Türkis-Blau ist Geschichte und im Regierungsprogramm gibt es keine Anzeichen, dass an der Regelung gerüttelt wird. In welcher Tonart geht es nun weiter? Emmerich Tálos, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Uni Wien und ausgewiesener Sozialpartnerschaftsexperte, sieht Signale, dass die neue Regierung anders zu verfahren gedenkt. Was Türkis-Grün von Schwarz-Blau unterscheide, sei, dass sie explizit die Einbindung der Sozialpartner an einigen Stellen des Regierungsprogramms anspreche: rund um die Themen Niedriglohnanpassung an den KV-Mindestlohn, Zukunft der Arbeit, Einführung eines Bildungs- und eines Zeitwertkontos.

Auch bei anderen scheinen die Sozialpartner nicht abgeschrieben zu sein. Die Präsidentin des ÖVP-Seniorenbunds, Ingrid Korosec, schlägt vor, dass sich die Sozialpartner mit der Abflachung von Gehaltskurven beschäftigen, Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) verweist rund um die Lehre mit Matura bei der Frage nach dem Rechtsanspruch auf die Absolvierung von Kursen in der Arbeitszeit auf die Sozialpartner. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) trat jüngst mit der Wirtschafts- und Arbeiterkammer, der Industriellenvereinigung, dem ÖGB und der Landwirtschaftskammer vor die Presse, um ihren "Digitalisierungspakt" vorzustellen.

WKO-Präsident Harald Mahrer, LKO-Präsident Josef Moosbrugger, AK-Präsidentin Renate Anderl, ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian – die Sozialpartner anlässlich eines Festakts des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger.
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Sozialpartnerschaft wie sie leibt und lebt. Ist sie also zurück – wie in besseren Tagen? Jein, sagt Tálos. Auch wenn der Angriff auf das Kammernsystem auf die Blauen zurückgehe, "Kurz und Co haben die Schwächung voll mitgetragen". Jetzt müsse sich in der Praxis erweisen, ob Türkis-Grün andere Akzente setzen und gerade die Grünen ein Revival der Sozialpartnerschaft fördern. Auf der Hand liegt das für Tálos nicht. Die Grünen seien nicht unbedingt in den Verbänden verankert. Außerdem hätten sie sich in Vorregierungszeiten gegen die Entmachtung der Arbeitnehmervertretung in der Sozialversicherung ausgesprochen, gekommen sei sie doch. Sie waren gegen die Einführung des Zwölfstundentags. Angetastet wird er nicht.

Den Vorwurf, dass die Sozialpartner gerade in dieser Frage eben nichts weitergebracht hätten, lässt Blaha nicht gelten. Die Sozialpartnerschaft sei "eben keine technokratische Lösungsmaschine, die auf Zuruf Lösungen ausspuckt. Es ist durchaus möglich, dass man in manchen Punkten nicht zu einem Ergebnis kommt, das für beide Seiten Vorteile hat". Manchmal dauere es eben auch Jahre, um in heiklen Fragen auf einen grünen Zweig zu kommen, ergänzt Tálos.

Aber haben nicht die Neos recht, wenn sie angesichts der üppigen Ausgaben der Wirtschaftskammer für den Opernball wieder einmal die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft fordern? Tálos hält dagegen: Am meisten leiden würden darunter die Arbeitnehmervertreter. Für die Wirtschaftsvertreter würde der Geldstrom kaum versiegen. Dafür würden potente Unternehmen oder die Industrie schon sorgen. Im Interesse der Wirtschaft könne das nicht sein, denn das Modell der Sozialpartner habe sich bewährt, so Tálos.

Zu den Aufgaben der Sozialpartner gehören nicht nur die Kollektivvertragsverhandlungen.
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Und was sagt einer, der die Sache mittlerweile mit gesundem Abstand sieht? Ausgedient habe die Sozialpartnerschaft nicht, urteilt der Ökonom Christian Keuschnigg, Chef des Wirtschaftspolitischen Zentrums in Wien. Gerade in Zeiten wie diesen, da es schwierige Anpassungen durch Automatisierung oder Digitalisierung zu bewältigen gelte, sei es wichtig, dass die Gruppen mit unterschiedlichen Interessen ein gemeinsames Forum hätten und ein "runder Tisch" institutionalisiert sei. "Schließlich gelingen ja auch die Lohnverhandlungen als Kernfrage der künftigen Wirtschaftsentwicklung ohne direkte Beteiligung der Regierung. Das hat doch trotz aller Spannungen in Österreich im Unterschied zu anderen Ländern insgesamt gut funktioniert."

Für Tálos hängt die Frage, ob die Sozialpartnerschaft wieder zu einem wichtigen politischen Gestaltungsfaktor werde, davon ab, ob die Regierung bereit sei, die Interessenorganisationen der Unternehmer und Arbeitnehmer paritätisch in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Voraussetzung: Die ÖVP müsste sich ändern.

IHS-Chef Martin Kocher findet, dass es noch genug zu tun gibt – vor allem in puncto Flexibilität am Arbeitsmarkt: "Das wird bei zunehmendem Wandel mehr und mehr ein Problem." Entscheidend sei aber, dass die Flexibilität auf beiden Seiten des Arbeitsmarkts erhöht werden müsste – Arbeitnehmer müssten zum Teil flexibler bei der Arbeitszeit werden, Arbeitgeber bei der Gewährung von Weiterbildung, Sabbaticals, Telework. Der Abtausch, der im Interesse beider Seiten sein müsste, so Kocher, sei bisher nur unzureichend im Rahmen von Kollektivvertragsverhandlungen erfolgt. "Diese wären der richtige Ort dafür." (Regina Bruckner, 27.2.2020)