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Kehlmann: "Das Wunder des Überlebens" ist ein ergreifendes Zeugnis der moralischen Unsicherheit, in der sich nach dem Krieg nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer befanden."

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Die Schlüsselszene dieses Buches findet schon früh statt. Der Erste Weltkrieg ist vorüber, die Doppelmonarchie hat aufgehört zu existieren, und Ernst Lothar ist verzweifelt: "Denn was da unterging, war eine Macht und Herrlichkeit ohne Beispiel gewesen."

Das meint er ernst, und sein Leid ist so groß, dass er meint, damit nicht umgehen zu können. Es sprengt die Grenzen des normalen Patriotismus, sein Ausmaß ist pathologisch. Das merkt er selbst, und deshalb lässt er sich einen Termin bei Doktor Freud geben.

Was dann folgt, ist eine der merkwürdigsten Schilderungen der österreichischen Memoirenliteratur. Ein erschütterter Patriot bittet Sigmund Freud um Hilfe dabei, mit dem Verlust der k. u. k. Monarchie umzugehen. "Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?"

Freud antwortet mit einem Hinweis auf Lothars verstorbene Mutter. Wer erwachsen sei, verwaise nun einmal früher oder später.

Aber Lothar lässt sich nicht besänftigen. "Es ist das einzige Land, wo ich leben kann!"

"In wie vielen Ländern haben Sie schon gelebt?", fragt Freud und kommt auch damit nicht weiter. Lothars Patriotismus ist vernünftigen Einwänden nicht zugänglich. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Freud mit der Erwähnung von Lothars Mutter ins Herz des Problems getroffen hat.

Zu Beginn von Das Wunder des Überlebens hat Ernst Lothar seine einsame und triste Kindheit als "spätgeborenes Kind alternder Eltern" geschildert, zu denen er keine innige Beziehung hatte. Tatsächlich scheint das Heimatland im Seelenleben Lothars schon früh eine Art Mutterstelle eingenommen zu haben, von der zu emanzipieren er sich lebenslang weigerte.

Hysterische Liebe zur Heimat

Ernst Lothar war zunächst Jurist, dann Theaterkritiker, dann ein erfolgreicher Regisseur, dann auch Romanautor und Direktor des Theaters in der Josefstadt. Das Wunder des Überlebens ist die Autobiografie eines klugen, nachdenklichen und allem Anschein nach überaus liebenswürdigen Mannes, der nur in einem einzigen Aspekt emotional labil erscheint, und das ist seine regelrecht hysterische Liebe zur Heimat.

Stolz und verlegen zugleich berichtet er, dass er einmal Max Reinhardts Angebot, dessen Berliner Bühnen zu leiten, ablehnen musste, weil das nun einmal bedeutet hätte, dass er anderswo als in Österreich hätte leben müssen. Später, nachdem das geliebte Land ihn schimpflich vertrieben hat, stürzt ihn der Treueeid, den er als neuer Bürger auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika leisten muss, in drastische Gewissenskonflikte, und obgleich er gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Adrienne Gessner, in den USA eine stabile Existenz aufgebaut hat – weiß Gott keine geringe Leistung! –, ergreift er die erste sich bietende Gelegenheit, um nach Österreich zurückzukehren.

Nach Hause

Er nimmt sich vor, im Nachtzug von Paris nach Wien "von der Minute, da ich in den Zug stieg, bis zu der Ankunftsminute nichts zu denken als: Ich fahre nach Hause!" Das ist so rührend wie nachvollziehbar, aber wie bringt man es zusammen mit dem Zorn, mit welchem er nur wenig später auf einer Abendgesellschaft im zerstörten Wien folgende Frage aufwirft:

"Würde zum Beispiel der Professor an unserem Tisch, wenn er sich dafür interessierte – er interessiere sich aber nicht, auch diese Frage sei rein akademisch –, eine Berufung erhalten?

Er würde sie nicht erhalten, sagte ich. Der Antisemitismus – und damals war die Wiederkehr der Nazi-Schmierereien noch nirgends in Erscheinung getreten – herrsche nach wie vor. Dass sechs Millionen Juden ermordet worden waren, seien die sieben Millionen Österreicher, vermutlich sogar die ganze Welt, im Begriffe zu vergessen; sie nähmen es übel, daran erinnert zu werden, es gelte als taktlos. Zwar ziehe der Antisemitismus momentan die Krallen ein und drapiere sich mit Alibis, da mitunter kleinere Posten in nichtarische Hände kämen; auf die entscheidenden würden Juden grundsätzlich nicht oder nur mit äußerstem Widerstreben berufen. Nach Rückkehrern, obschon man es offiziell nicht zugab, bestehe kein Verlangen, nach anerkannten am wenigsten; man wolle unter sich bleiben und sein angegriffenes Gewissen schonen."

Diese bitteren, klarsichtigen Sätze aber spricht derselbe Mann, der, von der amerikanischen Behörde mit der Entnazifizierung des österreichischen Kulturlebens beauftragt, folgende Befragung des schwer belasteten Wilhelm Furtwängler durchführt:

"Selten hat ein Verhör kürzer gedauert. Er eröffnete es, nicht ich.

,Sie wollten mich sprechen?‘, fragte er.

,Danke, dass Sie gekommen sind‘, antwortete ich.

Dabei hatte es sein Bewenden. Auf der Stelle waren wir Freunde geworden."

Moralische Unsicherheit

Das eigentümliche Pendeln zwischen scharfem Urteil und allgemeiner Umarmungsbereitschaft macht diese Memoiren zu einem ergreifenden Zeugnis der moralischen Unsicherheit, in der sich nach dem Krieg nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer befanden.

Ernst Lothar besitzt nicht die denkerische Schärfe einer Hannah Arendt, er ist eine träumerisch-gutwillige Natur, die mit seiner Umwelt in Einklang leben will und die doch zu ehrlich ist, um die Dinge zu beschönigen oder Lügen zu glauben.

Diese Memoiren sollten Pflichtlektüre sein für jeden, der sich für die Kulturgeschichte Österreichs interessiert. Ein Grund dafür, dass das Buch lange vergriffen war, ist wohl auch Lothars zeitweiliges Naheverhältnis zu Kurt Schuschnigg, dem Kanzler und Semidiktator des christlichen Ständestaates, der ihm, wie auch Franz Werfel oder Karl Kraus, als Garant gegen die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland erschien.

Alle Widersprüche in einem

"[Schuschnigg] war ich, als ich vor Jahren im Burgtheater König Ottokars Glück und Ende inszenierte, zum ersten Mal begegnet und hatte in ihm einen Theater- und Musikfreund von ungewöhnlichem Verständnis kennengelernt. Dass er überdies ein Anhänger meines Großonkels war, dessen Bücher er immer wieder las, begründete einen Zusammenhang, der – fern der Politik, worüber wir verschieden dachten – jener wachen Bereitschaft für die Künste galt, die ihn als typischen Österreicher unwiderstehlich anzogen. Im Laufe unserer Bekanntschaft lernte ich seinen Mut, seine Integrität, die Selbstverständlichkeit, Opfer zu bringen, daher auch zu verlangen, eine Urteilsgabe, die der Phantasie mehr als der Realität vertraute, kennen, verstehen und respektieren."

"Nach Rückkehrern, obschon man es offiziell nicht zugab, bestehe kein Verlangen, nach anerkannten am wenigsten; man wolle unter sich bleiben und sein angegriffenes Gewissen schonen." Nach dem Krieg wurde Ernst Lothar wieder heimisch in Österreich.
Foto: Paul Zsolnay Verlag

Hier hat man alle Widersprüche Lothars in einem Absatz: Die Bereitschaft, einem "Theaterfreund" alles zu vergeben, zugleich die Einschränkung, dass man in der Tat politische Differenzen gehabt habe, dann die etwas alberne Zuschreibung der Offenheit für die Kultur als typisch österreichischer Eigenschaft und schließlich die auf dessen persönlichen Charakter abhebende Verteidigung des Kanzlers gegen die wohlbegründeten Vorwürfe der Historiker.

Gleich darauf aber berichtet Lothar von einer Veranstaltung der Vaterländischen Front, bei der Schuschnigg in schwarzer Uniform aufgetreten sei, die ihn "penetrant an Vorbilder jenseits der Grenze" erinnert habe. Und dann kommt es auf der gleichen Feier zur aberwitzigsten Wendung.

Lothar unterhält sich mit einem austrofaschistischen Funktionär, der ihm aufs Freundlichste zu seinen hervorragenden Theaterkritiken gratuliert. "Am vorangegangenen Nachmittag aber hatte er die Weisung erteilt, mir und zwei anderen Theaterdirektoren den Pass ‚im gegebenen Augenblick‘ unverzüglich abzunehmen. Ob der zweite hohe Funktionär, er wünschte mir zu dem ‚österreichischen Triumph‘ unserer Morgenfeier Glück, es gewesen ist oder der dritte, er ließ bei einem Glase Wein ‚Lothars Josefstadt‘ hochleben, kann ich nicht mehr nachprüfen: Jedenfalls schrieb mir meine zuverlässige Sekretärin Josefine Holman zwei Wochen später, einer der beiden habe sich am Tag nach meiner Emigration telefonisch bei ihr erkundigt, ob ich denn nicht endlich ‚im Lager‘ sei."

Die Emigrantenzeit beginnt

Gerade weil Lothar auch aus dem Inneren des Ständestaates zu erzählen vermag – immer zur Verteidigung bereit und doch niemals beschönigend –, ist dieses Buch ein Quellenwerk ersten Ranges. Es ist darüber hinaus enorm lesenswert, weil Ernst Lothar ein wirklich guter Schriftsteller ist, dem immer wieder so grandiose Szenen gelingen wie jene Konsultation bei Freud oder auch der Besuch, den Lothar gemeinsam mit Richard Beer-Hofmann, Anton Wildgans, Arthur Schnitzler, Robert Musil, Rudolf Kassner, Hermann Broch, Joseph Roth und Alban Berg beim österreichischen Kanzler Ignaz Seipel macht, um die Erlaubnis zur Gründung einer Schriftstellergewerkschaft zu erwirken.

Vermutlich hat es in der Kulturgeschichte Österreichs weder zuvor noch jemals danach eine Versammlung solchen Kalibers gegeben – und natürlich kommt dabei gar nichts heraus. Prälat Seipel fragt, wer denn Schriftsteller sei und wie man ein literarisches Kunstwerk definiere, was ihn folgerichtig zur Frage bringt, ob die Kunst alles dürfe.

"Sofort antwortet Schnitzler: ‚Alles, was zum Leben und zum Tod gehört, ist Gegenstand der Kunst. Nicht der Gegenstand verbietet sich, sondern nur die unkünstlerische Art, ihn zu behandeln. Der Gegenstand ist frei.‘

An dem Tisch regt sich kein Laut.

Da schaut der Prälat durch seine scharfe Brille auf den Dichter. ‚Herr Doktor Schnitzler‘, sagt er grau, ohne die Stimme zu erheben, ‚da trennen uns Welten!‘"

Wenig später verjagen zwei lemurenhafte NSDAP-Schauspieler des Josefstadt-Ensembles, deren Namen Lothar in deplatzierter Noblesse verschweigt, ihn aus seinem Büro und seiner Wohnung. Seine Emigrantenzeit beginnt. Die Schilderung seiner gehetzten Flucht ins Exil ist, auch wenn man den Ausgang natürlich vorher kennt, so spannend, dass sie einem den Atem nimmt.

Unwiederbringliche Zeit

Unvergesslich sind auch viele von Lothars Skizzen über die Härten des Exils, etwa die Begegnung mit einem alten Mann auf einer New Yorker Parkbank, der dem verzweifelt in ein Schulheft kritzelnden Nachbarn lakonisch sagt: "Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen" – und dann später, und im scharfen Gegensatz dazu, das nächtliche Beisammensein mit Franz Werfel, bei dem zwei eben noch bedrohte Flüchtlinge den Umstand feiern, dass ihre Romane zur selben Zeit auf der Bestsellerliste der New York Times aufgetaucht sind.

Und natürlich sind da die tragischen Tode seiner beiden Töchter – auch darauf bezieht sich der in diesem Zusammenhang auf einmal bitter klingende Titel; dass es ein Wunder ist, dass man nach solchem Leid überhaupt weiterlebt, dass das Dasein trotzdem nicht endet.

Nach dem Krieg wurden Ernst Lothar und Adrienne Gessner wieder heimisch in Österreich, ganz wie er es sich ersehnt hatte. Er verkörperte dort jene Kontinuität, auf welche die österreichische Kulturpolitik sich gerne berief: Reinhardt, Schnitzler, Broch und Musil waren nicht mehr da, aber Ernst Lothar war ihr Mitarbeiter oder Freund gewesen – der verkörperte Abglanz einer unwiederbringlich verlorenen Zeit.

Mit dem Roman Der Engel mit der Posaune gelang ihm ein wirklich bedeutendes Buch, das bald verfilmt wurde, und er nahm auch seine Tätigkeit als vielseitiger Kulturfunktionär wieder auf, unter anderem bei den Salzburger Festspielen. Und er schrieb Das Wunder des Überlebens – sein Werk der Rückschau und Rechtfertigung.

Es ist ein Buch, das ein vitales und klar umrissenes Bild seines Autors zeichnet, in seinen Stärken und Schwächen, mit entwaffnender Deutlichkeit. Die Frage, ob der Schöpfer eines Memoirenwerks sympathisch ist, sollte an sich bei der Lektüre keine große Rolle spielen, aber in diesem Fall darf man es doch einmal sagen: Es ist schwer möglich, Das Wunder des Überlebens zu lesen und dabei Ernst Lothar, diesen genialisch-kindlichen Menschen, nicht ins Herz zu schließen. (Daniel Kehlmann, 29.2.2020)