"Unsere Bauherren sind keine fliegenden Vögel, sondern Menschen mit 1,70 oder 1,80 Meter Körperhöhe", sagt Stephan Gratzer. "Daher ist es auch wenig sinnvoll, ein Architekturmodell aus der Vogelperspektive zu zeigen. Wir stellen unsere Modelle so aus, dass man an ihnen vorbeigehen und einen Blick aus der Sicht des Fußgängers erhaschen kann."

Gratzer ist Partner im Genfer Büro Jaccaud Spicher Architectes Associés (JSAA), das sich auf die Planung von großvolumigen geförderten Wohnbauten spezialisiert hat. Die meisten Projekte liegen im Bereich von 30 bis 60 Millionen Schweizer Franken, rund 28 bis 56 Millionen Euro. Kommenden Samstag hält Gratzer im Rahmen des Wiener Architekturfestivals Turn On im ORF-Radiokulturhaus einen Vortrag.

Stephan Gratzer, Lionel Spicher und Jean-Paul Jaccaud.
Foto: Jeel Tettamanti

Das Büro von JSAA liegt in der Genfer Innenstadt in einer revitalisierten Industriebrache. Wo gestern Messgeräte für die Societé genevoise d’instruments de physique gebaut wurden, entstehen heute die Wohnkonzepte von morgen. Die aufgebockten und aufgeständerten Holzmodelle, die quer über das Büro verstreut sind, dienen als optische und akustische Raumteiler und geben Einblick in die kürzlich fertiggestellten und sich gerade in Bau befindlichen Häuser. "Wir arbeiten ungern mit digitalen Visualisierungen", sagt der 38-Jährige, "denn das verfälscht die Architektur und lässt Bilder und Erwartungshaltungen entstehen, die meist nicht der Realität entsprechen."

Der Genfer Wohnbau ist – mehr noch als in den übrigen 25 Schweizer Kantonen – strengen technischen und juristischen Vorschriften unterworfen, die in puncto Brandschutz, Erdbebensicherheit, Barrierefreiheit und Heizwärmebedarf mit dem Wiener Niveau vergleichbar sind. Noch strenger sind die Vorgaben in Hinblick auf den Einsatz grauer Energie und ökologischer Materialien. "Und weil Genf eben Genf ist", sagt Gratzer, "kalkulieren wir unseren Wohnbau nicht nur in Quadratmetern, sondern mit einer ziemlich komplexen Matrix aus Kubikmetern und Zimmeranzahl. Da den Durchblick zu bewahren ist nicht immer leicht."

Bewilligung erst nach 18 Monaten

"Wir arbeiten kam mit digitalisierten Visualisierungen, denn das verfälscht die Architektur und lässt Bilder und Erwartungshaltungen entstehen, die meist nicht der Realität entsprechen."
Foto: Jeel Tettamanti

Während die Baukosten auf Kubikmeterbasis errechnet werden und sich die Widmungen und Bauvorschriften auf Quadratmeter beziehen, ergeben sich die monatlichen Mietobergrenzen aus der Zimmeranzahl, wobei in der République et Canton de Genève, "im Wilden Westen der Schweiz mit seiner Genfer Extrawurst" (O-Ton Gratzer), die Küche als Zimmer mitgezählt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Eidgenossenschaft die Interessen der Nachbarn und Anrainer so stark wiegen, dass in manchen Projekten die baubehördliche Baubewilligung erst nach 18 Monaten auf dem Tisch liegt.

"Gewiss, das ist manchmal ein bisschen mühsam", sagt der Architekt, "aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen." Und das Beste in der Westschweizer Interpretation hat mit dem Wiener Optimum nicht viel zu tun, denn während hierzulande jeder Wohnbau, jeder Bauteil, ja sogar jede Wohnung nach allen Regeln der Baukunst zum Unikat hochstilisiert wird, schreckt man in der Schweiz vor einer gewissen Standardisierung und Seriellität nicht zurück.

"Gewiss, das ist manchmal ein bisschen mühsam", sagt der Architekt, "aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen."
Foto: Jeel Tettamanti

Die Bauten von Jaccaud Spicher wirken nüchtern und funktional, sie sind ästhetisch und hochelegant bis ins kleinste Detail, nach der Neuerfindung des Rades sucht man vergeblich. Sehr schweizerisch eben. Oder, wie es Gratzer ausdrückt: "Ein Mensch kann ohnehin immer nur eine einzelne Wohnung bewohnen. Deswegen halte ich die Überindividualisierung, die sich auf Baulogistik und Budget auswirkt, für etwas überzogen."

Und so lebt der Genfer Wohnbau, während in Wien Systembruch und Individualität angestrebt werden, vom genauen Gegenteil – von einer harten Stringenz mit Ecken und Kanten, mit Winkeln und Rundungen, mit vielfach übereinander multiplizierten Vor- und Rücksprüngen, die maximale Belichtung und minimale Einsehbarkeit garantieren. Der Wohnbau wird immer komplexer und immer kostspieliger. Vielleicht liegt eine mögliche Lösung zum Problem in der Abkehr vom Unikat und der Zuwendung zum hochwertigen Kollektiv. Mehr davon nächsten Samstag. (Wojciech Czaja, 01.03.2020)