Fridays-for-Future-Demonstration auf dem Heldenplatz in Wien.

Foto: Christian Fischer

Im Dezember 2017, zum Start der türkis-blauen Regierung, gingen die Omas gegen rechts erstmals auf die Straße. Ein Jahr später startete Fridays for Future in Österreich mit wöchentlichen Schulstreiks und Demos. Susanne Scholl und Veronika Winter waren jeweils von Anfang an dabei. DER STANDARD hat mit ihnen über Generationenunterschiede, Straßenaktivismus und die Zukunft zivilgesellschaftlichen Engagements gesprochen.

STANDARD: Wann haben Sie beide zum ersten Mal Unrecht miterlebt?

Scholl: Ich komme aus einer jüdisch-kommunistischen Familie. Meine Großeltern wurden im Nationalsozialismus ermordet. Mit Themen wie Diskriminierung, Verfolgung und Antisemitismus bin ich also aufgewachsen. Einschneidend war für mich auch der Vietnamkrieg. Das war ein offensichtliches Unrecht, bei dem ich nicht einfach zusehen konnte, und ich begann, bei Protesten mitzuwirken.

Winter: Ich wurde in eine heile Welt geboren und habe vieles davon nicht miterlebt. Für mich war 2015 das Jahr, in dem ich politisiert wurde. Ich konnte beim Flüchtlingsthema nicht mitanhören, wie Menschen objektiviert wurden. Damals sind viele Leute aufgewacht. Ich habe beschlossen, für Menschenrechte einzutreten und Demokratie aktiv mitzugestalten.

Veronika Winter reichte mit Greenpeace eine Klimaklage beim Verfassungsgerichtshof ein.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Engagiert man sich heute anders zivilgesellschaftlich als früher?

Winter: Wir sind heute an einem Kipppunkt. Wenn wir Menschenrechte schützen wollen, ist es unumgänglich, auch das Klima zu schützen. Und weil die Politik noch immer losgelöst von den Wünschen der Menschen ist, werden wir weiter demonstrieren. Durch Digitalisierung und ständige Unterhaltung haben wir aber teilweise verlernt, dass Menschenrechte und Demokratie geschützt werden müssen und nicht einfach gegeben sind. Wenn man den ganzen Tag in der Schule sitzt, bleibt oft wenig Zeit, sich woanders zu engagieren.

Scholl: Jetzt muss ich sagen, dass das bei uns nicht so anders war. Wir hatten auch unsere Prüfungen, aber gerade im Studium gab es schon Zeit, sich politisch zu betätigen. Nur waren die Fronten klarer: Als wir 1968 auf die Straße gingen, gab es ein klares rechts und links. Das ist heute viel schwieriger und auch ein Grund, wieso die Omas gegen rechts so einen Erfolg haben.

STANDARD: Weil sie eine Möglichkeit zur Identifizierung bieten?

Scholl: Es geht um Identität und die Frage, wo ich mich anschließen kann, ohne mich genieren zu müssen. Die Parteien kann man mittlerweile alle vergessen. Die Frage ist aber auch: Wer ist die Zivilgesellschaft? Das ist nicht so einfach, weil sie zum Teil zerfleddert oder schmähstad, sprich: etwas sprachlos ist und sich zurücklehnt.

STANDARD: Hat das damit zu tun, dass zu viel Verantwortung auf die Zivilgesellschaft geschoben wird?

Scholl: Ich denke, im Moment hat das damit zu tun, dass die Grünen in der Regierung sind und viele meinen: "Jetzt lassen wir sie mal arbeiten." Sebastian Kurz ist ein versteckter Blauer. Man hört das an seiner Diktion. Das bedeutet, dass die türkise Regierung immer noch eine Gefahr ist.

Winter: Es wird auch für uns zunehmend schwieriger, zu signalisieren, dass die Klimakrise nicht gelöst ist, nur weil die Grünen in der Regierung sitzen. Wenn die Emissionen 2020 nicht radikal sinken, gibt es laut Weltklimarat kein Szenario, das die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius beschränkt. Deshalb verstehen wir nicht, wie man mit einer ökosozialen Steuerreform noch zwei Jahre warten kann. Als aktive Bevölkerung müssen wir die Politik wachrütteln. Sonst können wir uns nicht darauf verlassen, dass sich etwas ändert.

STANDARD: Frau Winter, Sie meinten, es sei für Sie das "Normalste der Welt", sich bei Fridays for Future zu engagieren. Ist das wirklich für jeden so einfach?

Winter: Absolut nicht. Es dauert lange, bis immer mehr Tropfen in dieses Fass kommen und es endlich überläuft. Es gibt in unserer Gesellschaft keine Erzählung, wonach man sich aktiv engagieren sollte. Das versuchen wir gerade zu ändern. Wir erfahren aber in der Ausbildung noch immer zu wenig über die Realität. Wir lernen über die letzten 200 Jahre und nicht, dass es in zehn Jahren vielleicht schon zwei Grad wärmer ist. Der Unterricht schafft es nicht, den Bezug zwischen Individuum und Gesellschaft herzustellen. Deshalb fehlt vielen das Bewusstsein, um sich zu engagieren.

Scholl: Ich muss widersprechen: Meiner Meinung nach wird gerade die jüngere Geschichte viel zu wenig und zum Teil falsch behandelt. Wir haben nach Kriegsende so getan, als hätten wir wieder bei der Stunde null angefangen. Aber das Gedankengut ist nicht einfach so verschwunden. Jetzt sind wir in einer globalen Krise, und das kommt stark hoch: Plötzlich reden wir darüber, ob es in Ordnung ist, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Wir müssen die Ideologien weiter infrage stellen und diskutieren, was menschenwürdig ist und was nicht. Die Zeitzeugen sterben aus, aber wir als zweite Generation haben das Trauma unserer Eltern geerbt. Es ist unsere Aufgabe zu schauen, dass niemand falsch, sprich: nach rechtsextrem abbiegt.

Veronika Winter (links) und Susanne Scholl wünschen sich mehr demonstrierende Menschen auf den Straßen – egal ob jung, alt oder dazwischen.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Welchen Einfluss wird die Zivilgesellschaft der Zukunft haben?

Winter: Ich wünsche mir, dass sie zunehmend aktiver wird, Dinge infrage stellt und sich Politik nicht nur hinter dicken Mauern abspielt. Sie muss im Wohnzimmer, im Klassenzimmer stattfinden. In Wien bräuchten wir mehr öffentliche Plätze, an denen Leute zusammenkommen, Dinge ausdiskutieren und mitbestimmen können. Insbesondere junge Menschen haben immer noch zu wenig Platz, um sich eine Stimme zu verschaffen. Das geht bei unseren Demos, aber da wäre noch viel mehr möglich: angefangen bei Bürger- und Bürgerinnenräten bis hin zu öffentlichen Foren.

Scholl: In Österreich gab es lange den Standpunkt, dass uns das alles nichts angeht. Jetzt langsam kommt die Realität auch hierher. Die Zivilgesellschaft wird eine stärkere Rolle spielen, weil die Politik das Gefühl, dass alles in Ordnung und unter Kontrolle sei, nicht mehr vermitteln kann. Wir haben ein Problem der mittleren Generation. Deswegen müssen die Jungen und Alten dafür sorgen, dass das Engagement weitergeht.

Susanne Scholl engagiert sich bei Omas gegen rechts.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Wie können wir es schaffen, dass sich Junge nicht nur mit Jungen und Alte nicht nur mit Alten identifizieren, sondern dass wir alle Bevölkerungsgruppen abholen?

Scholl: Das Bewusstsein, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben und einiges tun müssen, um halbwegs so gut weiterleben zu können wie bisher, breitet sich aus. Aber es sind immer kleine Gruppen, die das vorantreiben. Wir Omas bekommen fast ausschließlich positive Reaktionen.

Winter: Es ist zunehmend nicht mehr möglich, zu sagen, die Gesellschaft sei nicht bereit. Die meisten haben begriffen, dass es so nicht weitergehen kann. Uns wurde immer versprochen, dass wir auch eine heile Welt bekommen werden. Viele junge Menschen haben im letzten Jahr erfahren, dass das nicht stimmt. Es gibt keinen Schritt zurück mehr. Wir gehen mit konkreten Themen auf die Straße und setzen Agenden. Keine Partei kann sich mehr vor Klimathemen drücken, weil die Gesellschaft und reale Umwelt das Thema vorgeben.

STANDARD: Ab wann kann man von zivilgesellschaftlichem Engagement sprechen?

Scholl: Jeder Mensch hat seine persönlichen Limits. Wenn man auch nur im Familienkreis etwas laut sagt, ist das schon wichtig.

Winter: Alles, bei dem ich mich für eine bessere Welt entscheide, ist für mich Engagement – ob im Supermarkt, im Freundeskreis oder bei einer Podiumsdiskussion mit wichtigen Entscheidungsträgern. Ich erwarte nicht von jedem, dass er jeden Freitag auf die Straße geht. Viele Menschen können sich das gar nicht leisten. Aber alle anderen sind sehr wohl gefragt, in sich zu gehen und sich zu fragen, wie die Zukunft aussehen sollte. (Katharina Kropshofer, 3.3.2020)