Er ist der Superstar unter den Politologen: Colin Crouch hat mit seinem Buch Postdemokratie einen Welthit gelandet. Teil zwei widmete er der Frage, wie der Neoliberalismus trotz Wirtschaftskrise überleben konnte. Anlässlich eines Wien-Besuchs hielt er einen Vortrag über die "problematische Dominanz der Ökonomie in der Politik". Was meint er damit?

STANDARD: Wie kommen Sie darauf, dass die Ökonomie zu dominant geworden ist?

Crouch: Ein gutes Beispiel dafür bietet die Finanzkrise. Ihr Ursprung war eine große Deregulierung des Finanzsystems. Eine Gruppe von einflussreichen Wirtschaftswissenschaftern hatte argumentiert, dass der Finanzsektor fast keine Regulierung braucht. Das war eine verantwortungslose Behauptung und führte zur Katastrophe. Daraus müssen wir einige Dinge lernen. Erstens: Die Wirtschaftswissenschaften sind wichtig. Aber es ist nicht die einzige Lehre, die wir benötigen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Crouch: Um die Krise erklären zu können, müssen wir über die Rolle der Banken und ihrer Lobbyisten sprechen. Sie haben auf die Politik und auf die Regierungen eingewirkt. Die Einmischung dieser Gruppen hat die Probleme verschärft. Das ist etwas, was die reine Wirtschaftslehre nicht erfassen kann: den Einfluss von Lobbys, den Einfluss besonderer Interessensgruppen. Es ist also wichtig, neben einem ökonomischen auch ein politisches Verständnis für diese Vorgänge zu entwickeln. Die Wirtschaft selbst ist keine Wissenschaft. Um sie zu verstehen, können wir nicht allein auf Ökonomen setzen.

STANDARD: Sondern?

Crouch: Wir brauchen ein Sammelsurium an Experten. Hinzu kommt noch etwas: In einigen Sektoren sind die klassischen Regeln der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Hier sind wir so abhängig von großen Unternehmen, dass wir besondere Regeln benötigen. Das ist im Energie- und im Finanzsektor der Fall. Wir haben gelernt, dass viele der großen Banken too big to fail sind, also nicht pleitegehen dürfen, weil sonst das ganze Finanzsystem kollabiert. Das bedeutet, dass Banken kein Teil einer echten Marktwirtschaft waren, weil in einer echten Marktwirtschaft ein Unternehmen nie zu groß sein kann, um nicht untergehen zu dürfen. Das heißt, auch in diesem Fall hilft uns das rein ökonomische Verständnis nicht.

STANDARD: Es gibt doch verschiedenste Experten, die Regierungen beraten, nicht nur Ökonomen.

Crouch: Aber die Wirtschaftswissenschaften sind zu wichtig unter den anderen Sozialwissenschaften geworden. Die Regierungen hören nur darauf, was Ökonomen sagen. Ein Beispiel: Ökonomen argumentieren, dass wir flexiblere Arbeitsmärkte brauchen, dass es Unternehmen leichter gemacht werden muss, Mitarbeiter loszuwerden. Was sie dabei gern vergessen, ist, dass Menschen nicht wie Güter sind. Wir haben eine tiefgreifende Furcht vor Unsicherheit. Wenn Menschen unsicher werden, reagieren sie unterschiedlich, und damit kann uns die Wirtschaftswissenschaft nicht helfen. Das holt uns gerade wieder bei der Debatte über Migration innerhalb der EU ein.

Was taugen ökonomische Modelle, und welchen Einfluss haben sie auf die Politik? Diese Fragen bringen Colin Crouch ins Grübeln.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU hat zu einer Wohlstandsmaximierung geführt. Da sind sich Ökonomen einig.

Crouch: Und sie haben recht: Für eine Wirtschaft sind Einwanderer eine gute Sache. Aber sie verstehen nicht, dass viele Menschen Vorurteile haben, nicht gern neben Ausländern leben wollen. Das ist ein Problem, denn aus dieser Meinung erwächst Hass und Gewalt. Wir müssen also lernen, wie wir mit Menschen aus anderen Ländern besser zusammenleben können. Dafür brauchen wie Soziologen, Politikwissenschafter und viele andere Disziplinen.

STANDARD: Und Ökonomen verstehen all diese Dinge nicht?

Crouch: Es gibt Ökonomen, die es verstehen. Normalerweise aber haben sie dieses Modell des rationalen Verhaltens vor sich. Man kann perfekte theoretische Modelle bauen, die erklären, wie sich rationale Menschen und Akteure am Markt verhalten würden. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit, die viel komplexer ist. Aber für die Politiker ist es leichter, auf Wirtschaftswissenschaften zu hören, weil sie leichtere Antworten geben. Das Problem der Soziologen und Politologen ist, dass wir keine einfachen Antworten haben. Wir sagen "Es ist kompliziert", während Ökonomen eine Kennzahl vorlegen. Ja, es ist kompliziert. Aber wenn wir als Soziologen und Politologen ernster genommen werden wollen, müssen wir klarere Antworten liefern.

STANDARD: Wie viel Verständnis brauchen wir von komplexen wirtschaftlichen Vorgängen?

Crouch: Die Probleme unserer Gesellschaften sind so groß, so kompliziert, dass es sehr schwer ist für einzelne Bürger, rational zu agieren. Wie können wir verantwortungsvolle, demokratische Bürger sein, wenn wir so wenig verstehen? Das Modell, das wir im vergangenen Jahrhundert gefunden haben, war: Wir verstanden zwar vieles nicht, aber wir haben Parteien gefunden, die für uns gestanden sind, uns repräsentierten. Da war es gar nicht so wichtig, die Kleinigkeiten der Politik zu verstehen, wichtig war Vertrauen in die Partei. Dieses Vertrauen ist verlorengegangen, und das macht es schwieriger, sich zu orientieren.

Crouch: Vertrauen in die Parteien ist weg. Das macht es schwerer für Bürger, gute Demokraten zu sein.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Was kann da helfen: Mehr Ökonomie in der Schule?

Crouch: Das Problem ist ja, dass die Wirtschaftslehre zu groß geworden ist und wir mehr Gegengewicht brauchen. In Schulen sollten wir mehr über öffentliche Sachen sprechen. Im Schulwesen gibt es eine sehr akademische Bildung, ohne große Reflexionen über die Gesellschaft.

STANDARD: Was dann?

Crouch: Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Zivilgesellschaft. Wir haben in Westeuropa und Nordamerika sehr kräftige Zivilgesellschaften. Immer wenn ein neues Problem auftaucht, gibt es Menschen, die es entdecken, darüber lernen andere Menschen organisieren, bei Regierungen und Konzernen Druck machen. Ich sehe daher durchaus Gründe, optimistisch zu sein. (András Szigetvari, 29.2.2020)