Was ist eigentlich Neoliberalismus? "Ich habe keine Ahnung. Aber Sie können mich gern zitieren", sagt der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Olivier Blanchard. Letztlich unterscheidet den Franzosen von den anderen vom STANDARD befragten Ökonomen aber nur, dass er sich in seiner Ahnungslosigkeit zitieren lässt.

Seine Kritiker wissen den Neoliberalismus schon eher zu definieren: als blinden Glauben an einen schlanken Staat, den ungezügelten Markt, Sozialabbau und Deregulierung. Hochkonjunktur haben derzeit aber andere Strömungen, der Neoliberalismus scheint weltweit auf dem Rückzug.

Statt für freien Welthandel stehen etwa die USA unter Präsident Donald Trump für Protektionismus und nationale Alleingänge. Aber vor allem die Klimakrise lässt viele mit einem starken Staat liebäugeln, der die Märkte an den Zügeln nimmt. Die Europäische Kommission will Milliarden in eine grüne Zukunft Europas investieren. Städte wie etwa Hamburg haben längst Dieselverbote erlassen. Und auch der Papst glaubt nicht, dass die Erde vor dem Kollaps bewahrt werden kann, wenn in der Wirtschaft das freie Spiel der Preise herrscht.

Marktversagen

Aber so naheliegend der Schluss wirken mag, dass der Neoliberalismus auf die Klimakrise keine Antwort hat, so sehr liegt er daneben, erklärt Philosoph Felix Pinkert, der an der Universität Wien den Masterlehrgang in Philosophie und Ökonomie leitet. Der Neoliberalismus entspringe aus der liberalen Tradition und beinhalte mehr als nur den Glauben an ungezügelte Märkte. "Liberale finden freien Tausch gut, und sie finden freie Entscheidungen gut", erklärt der Philosoph: "Deshalb finden sie auch Märkte gut."

Märkte sind laut Neoliberalismus die beste aller Austauschformen, weil der Marktpreis Information schafft, die in der Planwirtschaft meist fehlen: Information darüber, wie gefragt und wie knapp Güter sind.Aber manchmal versagt der Preismechanismus eben. Nämlich dann, wenn Information darüber fehlt, welche Kosten durch ein Tauschgeschäft für Unbeteiligte entstehen. Treten sogenannte externe Effekte auf, ist auch der Neoliberale für einen staatlichen Markteingriff.

Neoliberale CO2-Steuer

Die Klimakrise passt genau ins Modell: Die Erderwärmung ist demnach ein riesiger externer Effekt. Wir konsumieren beispielsweise Tropenfrüchte, deren Transport nach Europa CO2-Emissionen verursacht. Aber auch die Produktion von Handys, Kleidung und vielen anderen Konsumgütern verursacht massenhaft Emissionen. Die externen Kosten tragen spätere Generationen in Form einer zerstörten Umwelt.

Die neoliberale Lösung: ein CO2-Preis. Werden Emissionen verteuert, wird der Marktfehler behoben. Insgesamt würden klimaschädliche Produkte im Vergleich mit nachhaltigen Gütern verteuert. Hilft das alles nichts, können sich selbst Neoliberale für Verbote erwärmen. Allerdings nur dann, wenn sie auch ökonomisch gut begründet sind. Lassen sich Verbrennungsmotoren etwa durch eine CO2-Steuer verteuern, wird der Neoliberale kaum einem Verbot zustimmen. Einem Verbot, Industrieabwässer ungefiltert in Flüsse zu leiten, schon eher.

Ein Neoliberaler kann sich also für Regulierung aussprechen, ohne seine Überzeugungen zu verraten.Einen selbsterklärten Neoliberalen nach seinen Überzeugungen zu fragen, ist allerdings gar nicht so leicht. So sehr er von seinen Kritikern gescholten wird, so vergeblich sucht man nach denen, die sich selbst neoliberal nennen. Eine der wenigen Ausnahmen ist der amerikanische Thinktank "Neoliberal Project", der unter neoliberaler Politik Marktlösungen, die allen zugutekommen, versteht – und sich in Sachen Klimakrise für eine CO2-Steuer ausspricht.

Beim Weltwirtschaftsforum in Davos drehte sich Anfang des Jahres vieles um den Klimawandel. Auch auf den Straßen.

"Neoliberalismus ist ein stark umstrittener Begriff", weiß auch Thomas Biebricher von der Goethe-Universität Frankfurt. Markteingriffe, um die Erderwärmung zu bremsen, hätten im Neoliberalismus aber durchaus Platz. Der Politikwissenschafter bezeichnet den Kern des neoliberalen Denkens als eine "organisierte Selbstregulierung der Märkte". Das Klischee vom Neoliberalen, der einfach alles deregulieren wolle, treffe demnach nicht zu.

Platz für starken Staat

Ein starker Staat habe im neoliberalen Denken durchaus Platz – er sei sogar notwendig, um das Funktionieren der Märkte zu garantieren. Walter Eucken etwa, ein wichtiger Vertreter des Ordoliberalismus und damit Vordenker des späteren Neoliberalismus, lehnte den Manchester-Kapitalismus und Laissez-faire ausdrücklich ab.

In der Politik setzte sich das neoliberale Denken unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan durch. Auch weil die bis dahin tonangebenden Keynesianer keine Antwort auf die Stagflation in den 70er-Jahren parat hatten – die Wirtschaft stagnierte im Zuge der Ölkrise, aber die Preise stiegen.

Dass Thatcher in Großbritannien und Reagan in den Vereinigten Staaten auf Deregulierung setzten und viele Staatsunternehmen privatisierten, schwingt heute noch im Wort "neoliberal" mit, wenn es von Neoliberalismus-Kritikern gebraucht wird. Als Sozialabbau, Kürzungen und Privatisierungen von wichtigen Institutionen definiert man Neoliberalismus beispielsweise bei der Sozialistischen Jugend, der Jugendorganisation der SPÖ. Oft wird Neoliberalismus auch einfach mit Kapitalismus gleichgesetzt.

Im Zweifel die Diktatur

Kapitalismus und Marktwirtschaft hatten immer schon Widersacher. Letztlich liegt es auch an der Sympathie neoliberaler Ökonomen für Diktatoren, dass der Neoliberalismus im heutigen Vokabular einen negativen Beigeschmack hat.Vordenker der Marktwirtschaft rund um Milton Friedman berieten in den 70er-Jahren die Militärdiktatur in Chile bei marktwirtschaftlichen Reformen. Dass General Augusto Pinochet gleichzeitig massenhaft Menschen gefangen hielt und hinrichtete, hat die liberalen Ökonomen viel Glaubwürdigkeit gekostet.

Moralisch. Denn aus Sicht der Wirtschaftswissenschafter war Chile gar kein Sündenfall. Für den österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek etwa, einen weiteren wichtigen Vordenker der Neoliberalen, war der von Pinochet gestürzte Sozialist Salvador Allende das größte Problem Chiles. Hayek sah in Allendes Chile eine totalitäre Demokratie und sprach sich später in einem Interview für einen "liberalen Diktator" aus, wenn die Alternative eine "unbegrenzte Demokratie" sei.

Für Biebricher liegt genau hier der große Einspruch gegen den Neoliberalismus. "Wenn es so wäre, dass der Markt die überlegene Form ist, müssten wir laut Neoliberalismus im Zweifel mit der Militärdiktatur gehen", so der Politikwissenschafter: "Das ist ein grundsätzliches Problem."

Aktivisten in Santiago halten die Bilder von Menschen hoch, die in der Zeit der Pinochet-Diktatur verschwunden sind.
Foto: AFP

Schon bei den klassischen Liberalen gehe es darum, was der Staat zu tun hat und wo er sich rauszuhalten hat, erklärt Philosoph Pinkert: "Ob der Staat, der seine Pflichten verletzt, eine Demokratie ist oder eine Diktatur, ist für Liberale zweitrangig." Er könne sich demnach durchaus vorstellen, dass Friedman und Hayek wirklich glaubten, sie würden etwas Gutes für die Menschen in Chile tun; dass eine marktliberale Diktatur mehr Menschen aus der Armut holen würde als eine sozialistische Demokratie.

Allerdings sei Neoliberalismus eine Schwundform des Liberalismus, gibt der Philosoph zu bedenken. Ein klassischer Liberaler könne nicht über die Verbrechen der Militärdiktatur hinwegsehen, da Liberalismus alle Aspekte des Lebens betreffe – nicht nur den Wirtschaftlichen.

Wen Neoliberale wählen

Zumindest in Europa können sich Neoliberale heute wohl noch lange eine liberale Diktatur wünschen. So schnell wird diese Variante nicht auf den Wahlzetteln stehen. Stellt sich die Frage, welche Parteien für Neoliberale am ehesten wählbar sind. "Extreme gehen nicht", glaubt Pinkert. Auf der linken Seite fehle jegliches Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Und auch Parteien rechts außen seien für Neoliberale unwählbar. "Das starke Volk widerspricht der Idee des starken und freien Einzelnen", so Pinkert.

Auch wenn sich etwa Grüne oder Sozialdemokraten offen gegen den Neoliberalismus aussprechen. Pinkert hält alle Parteien zwischen den Extremen auch für Neoliberale für potenziell wählbar. Letztlich komme es darauf an, ob ein Neoliberaler eher konservativ eingestellt ist oder auch in gesellschaftspolitischen Fragen liberal. Wichtig sei aber, dass sich eine Partei mehr oder weniger zur Marktwirtschaft bekennt.

Neos, ÖVP, aber auch Sozialdemokraten würden laut Pinkert gehen. "Aber ein konsequenter Neoliberaler sollte womöglich Grün wählen", sagt der Philosoph. Vor allem dann, wenn er sich um umweltschädliches Marktversagen kümmert. "Die grünen Realos sind die besten Wirtschaftsliberalen, wenn es um externe Umwelteffekte geht." Allen Verboten und CO2-Steuern zum Trotz. Oder eben gerade deshalb. (Aloysius Widmann, 29.2.2020)