Die Sehnsucht nach der Kreisky-Ära, die am 1. März 1970 begann, hat auch etwas von "in der Vergangenheit leben", findet der Autor und SPÖ-Kenner Robert Misik im Gastkommentar. Vorbildlich hingegen sei das Kreisky’sche Mindset.

Foto: Michael Murschetz

Als ich geboren wurde, lag das Kriegsende gerade 21 Jahre zurück. Seit meiner Geburt sind dagegen 54 Jahre vergangen. Dennoch erscheint mir die erste, kurze Zeitspanne wie eine riesige Epoche, die zweite, viel längere Zeitspanne dagegen nur wie ein Wimpernschlag. War doch erst gestern, dass ich ein Teenie war! Kurzum: Das Zeitempfinden der Menschen ist extrem subjektiv. Aber let’s face it: Die sechziger, siebziger Jahre sind ewig her.

Exakt 50 Jahre sind es jetzt, dass Bruno Kreisky seine erste Wahl gewann und – vorerst noch – in einer Minderheitsregierung das Kanzleramt übernahm. 50 Jahre ist das her, dass er seine erste Regierungserklärung hielt und einen Wirbelwind an ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Reformen ankündigte. 50 Jahre ist das her, dass die ÖVP-Abgeordneten wie Wirtshausrüpel in die Regierungserklärung hineinpöbelten, weil sie es nicht fassen konnten, dass jetzt tatsächlich einer von dem "roten Gsindel" als Regierungschef dieses Landes amtieren wollte, das sie ja so irgendwie als ihr Eigentum ansahen.

Geist der Utopie

Sozialdemokraten erinnern sich gerne an diese Zeit als die große Ära, die leider kurzfristig unterbrochen wurde, erst durch die schleichende Erosion in der Nach-Kreisky-Ära, dann durch die rasante Sklerotisierung ab Ende der neunziger Jahre. Doch wer heute 50 Jahre als ist, war am Ende von Kreiskys Regierungszeit gerade 13 Jahre alt.

Man drehe und wende es, wie man mag: Aber diese Sehnsucht nach der Kreisky-Ära hat auch etwas von "in der Vergangenheit leben". Und man fragt sich, wie das auf viele Junge wirkt. Vielleicht schon auch ein wenig nach "zauselige Opas erinnern sich an das Kaiserreich"?

Zu Kreiskys Zeiten herrschten Fortschrittsgewissheit und, ja, ein wenig der Geist der Utopie. Heute stellt man sich dieser Ära im Modus der Nostalgie. Nostalgisches Bewusstsein ist aber das ziemlich exakte Gegenteil jenes lebenssprühenden Zeitgeists, der Kreisky erst ermöglichte. Ein Kreisky, gäbe es ihn, würde nicht in die Vergangenheit blicken, sondern in die Zukunft. Oder simpler gesagt: Mit Sicherheit ist Kreisky-Nostalgie keine Antwort auf die Probleme der demokratischen Linken, sondern auch nur eine ihrer Erscheinungsformen.

Vergangene Größe

Nun ist die Linke, eigentlich seit ihren frühesten Tagen, eine traditionsbewusste politische Geistesströmung. Sie hatte schon Traditionsbewusstsein, bevor sie überhaupt eine Tradition hatte. Schon die französischen Revolutionäre von 1789 kostümierten sich als römische Tribune, Triumvirn und Senatoren und kopierten deren Rhetoriken, hundert Jahre später beschwor die Arbeiterbewegung wiederum das Erbe der französischen Revolution, Spartakusaufstände, Bauernkriege, und zugleich produzierte sie ihre eigene Tradition. Als Bruno Kreisky Ende der zwanziger Jahre zum "Political Animal" wurde, war er nicht nur von der aktuellen Aufbruchsstimmung des "Roten Wien" beeinflusst, sondern auch von der legendären Gründergeneration um Victor Adler. Dieses Gefühl, auf den Schultern von Giganten zu stehen und in der Tradition von Kämpfen früherer Generationen, war natürlich immer auch eine Stärke der Linken und keineswegs eine Schwäche. Junge Leute, die "links" werden, identifizieren sich üblicherweise mit Menschen, die seit hundert Jahren tot sind.

Aber wenn nur mehr die Erinnerung an vergangene Größe und das Gejammer über gegenwärtige Kleingeisterei bleibt, dann wird eine eigene Form von nostalgischer Verklärung der "guten alten Zeit" daraus, das, was Walter Benjamin einmal mit dem Begriff der "linken Melancholie" belegte – und das war durchaus spöttisch gemeint.

Zeitgeist-SPÖ

Kreisky selbst hat die Geschichte "aufgehoben", um hier ein bisschen herumzuhegeln, in diesem doppelten Sinne von "bewahrt" und "auf den Dachboden verräumt". Linker Jungsozialist in den zwanziger und dreißiger Jahren im Roten Wien, dann Untergrundaktivist der Revolutionären Sozialisten, Widerstandskämpfer und Eingekerkerter während der austrofaschistischen Diktatur, dann Exilant während der Nazijahre. Und gerade dieser Mann, der ja tatsächlich ganz lebenspraktisch in einer anderen Ära verwurzelt war, hat in Stil, Rhetorik und Politik die Sozialdemokratie in den sechziger Jahren so radikal modernisiert und an den Zeitgeist angepasst, dass er in der Lage war, große gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen.

Er öffnete die Sozialdemokratie in einer Ära gesellschaftlicher Ausdifferenzierung (was ihr Mehrheiten garantierte), die gesellschaftliche Ausdiffenzierung aber lockerte Klassenidentitäten und Parteiloyalitäten (was ihr das Erkämpfen von Mehrheiten seitdem erschwerte). Er machte eine Arbeiterpartei für neue Mittelschichten attraktiv, was später dazu führte, dass die arbeitenden Klassen sich zunehmend unvertreten fühlten. Er führte das Land nach links, indem er die Wähler und Wählerinnen nicht überforderte. "Solange ich regiere, wird rechts regiert", sagte er einmal ironisch. Überhaupt war er ja ein großer Ironiker. Und die Wirklichkeit ist ja ironisch, weil alle Dinge zwei, drei oder siebzehn widersprechende Aspekte haben.

Vergesst Kreisky!

Manchmal möchte man ausrufen: Vergesst Kreisky! Weil man Antworten nie in der Vergangenheit findet, und wenn man zu sehr in der Vergangenheit sucht, steht einem die Vergangenheit womöglich sogar im Weg. Wenn, dann ist das Kreisky’sche Mindset vorbildlich. Interessiere dich für alles, reiße das Überkommene nieder, schneide alte Zöpfe ab, sei absolut contemporary und nehme Umstände zur Kenntnis, ohne sie hinzunehmen. So gesehen kann man schön mit Kreisky gegen jede Kreisky-Nostalgie sein. (Robert Misik, 1.3.2020)