2020, im Jahr seines 250. Geburtstags, wird der Komponist Ludwig van Beethoven in Bild und Ton neu interpretiert.

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Im Jahr 1819 hatte der vormalige Klavier- und Gitarrenlehrer und nunmehrige Musikverleger Anton Diabelli eine folgenreiche Idee: Er lud praktisch alle damals bekannteren "vaterländischen" Komponisten ein, für ein Sammelwerk eine Variation über einen eigenen, musikalisch eher schlichten Walzer zu verfassen, darunter Czerny, Hummel, Franz Xaver Mozart, Schubert und Liszt.

Fast alle lieferten brav das Gewünschte. 50 Beiträge konnte Diabelli in einem Band publizieren. Doch der ebenfalls wie die anderen angefragte Ludwig van Beethoven wirbelte das Projekt ordentlich durcheinander und machte es zu einem ungeahnten Erfolg, indem er einen ganzen eigenen Band für den Verleger füllte.

"Schusterfleck"

Statt einer Variation über den "Schusterfleck", wie er Diabellis Thema nannte, lieferte er deren 33 in bewusster Übertretung einer ungeschriebenen Norm: Denn 30 oder maximal 32 Variationen waren bislang das Maximum des Üblichen bei derartigen Kompositionen gewesen. Der Rest ist (Musik-)Geschichte.

Genau 200 Jahre danach wurden etliche Zeitgenossen vom Wiener Musikverein angefragt, auf Diabellis Thema schöpferisch zu reagieren. Elf neue Werke – etwa von Lera Auerbach, Christian Jost oder Max Richter – sind entstanden, die der Pianist Rudolf Buchbinder nun am Dienstag im Goldenen Saal der Gesellschaft der Musikfreunde – neben Diabellis Original, Beethovens Riesenwerk und einer Auswahl der selten gespielten Stücke des ursprünglichen Projekts – uraufführen und anschließend auch anderswo präsentieren wird.

Nicht tonal

Ein Rundschreiben an die komponierenden Zeitgenossen stellte dabei auch die Frage nach der jeweils persönlichen Beziehung zu Beethoven: Zwei Jahrhunderte später nennt Philippe Manoury seinen Beitrag, der "Muster des Themas von Diabelli in eine nicht-tonale Umgebung transformiert".

Ludwig van Beethoven ist für den Live-Elektronik-Pionier "der Mann, der die alte Tradition in einen Raum verwandelt hat, in dem wir jetzt leben". Er selbst sieht sich in Fortsetzung des europäischen Komponierens: "Dieses besteht zu 60 Prozent aus Schreiben, zu 35 Prozent aus Experimenten und zu fünf Prozent aus Energie, um die Menschen davon zu überzeugen, dass das, was wir schaffen, weiterhin Musik ist."

Es ist schwer, ihn zu ignorieren!

Für Brett Dean – ehemaliger Bratschist der Berliner Philharmoniker – "kann man unter allen großen Alten Meistern den Ludwig am schwersten ignorieren. Er berührt, er überrascht, verwirrt und verblüfft immer wieder aufs Neue und versetzt uns immer wieder in Erstaunen." Seine Variation "ist eine wilde, ziemlich virtuose Toccata, die sich mit Diabellis Walzer auseinandersetzen will. Trotzdem schaut Ludwig selber immer wieder kurz herein. Wie gesagt: Es ist schwer, ihn zu ignorieren!

Zum Stichwort Tradition antworten die zeitgenössischen Tonkünstler höchst unterschiedlich: Während sie für Dean "stets eine willkommene und nicht verpönte Wegbegleiterin ist, die man aber manchmal vergessen muss, damit das Ganze eine Frische behält", sagt etwa Johannes Maria Staud, Tradition interessiere ihn nicht: "Musikgeschichte funktioniert für mich nicht chronologisch, sie besteht aus unzähligen Seitensträngen und Nebenwegen. Ich vertiefe mich allerdings häufig in einzelne Meisterwerke, die mich bewegen, inspirieren und auch provozieren."

Gestisch unverkennbar

Dazu gehörte für ihn Beethoven bereits, als Staud acht Jahre alt war. Nun versuchte er, "Diabellis Thema als Komponist des 21. Jahrhunderts ernst zu nehmen und in meine harmonische Welt zu entführen, aber gestisch unverkennbar am Vorbild zu bleiben".

Rodion Schtschedrin hält sich hinsichtlich der Tradition an den Dichter Horaz, dessen Werke auch in Beethovens Bibliothek standen: "Ändere deinen Stil häufiger, hat der Dichter einmal empfohlen. So möchte ich auf eine andere Art und Weise etwas Eigenes im Walzer von Diabelli hören, etwas, das man vorher nicht gehört hat, etwas von heute."

Währenddessen hat der Moskauer seine Nähe zum Jubilar Beethoven etwa so ausgedrückt, dass er ein Orchesterstück mit dem Titel Beethovens Heiligenstädter Testament geschrieben hat.

Die Zehnte kommt

Auch für den Amerikaner Brad Lubman ist "Beethoven einer der wichtigsten Komponisten" überhaupt, seine Variation handle "vom Geist seiner Musik, wie er durch Diabellis Walzerthema gesehen wird", während Beethoven für Toshio Hosokawa "die Hoffnung, das Licht" verkörpert. Sein Stück Verlust – das wie alle seine Werke "in einem Spannungs verhältnis zwischen westlicher Avantgarde und traditioneller japanischer Kultur" steht – soll "die Schönheit jedes einzelnen Klaviertons intensiv hören" lassen.

Ein sehr moderner Komponist fehlt allerdings hier – die künstliche Intelligenz. Sie hat indes noch viel Größeres vor: Mit ihrer Hilfe soll aus den Bruchstücken von Beethovens 10. Symphonie eine Ganzheit entstehen. (Daniel Ender, 2.3.2020)