Die verzweifelte Lage der Menschen an der türkisch-griechischen Grenze scheint bisher niemanden besonders zu interessieren.

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Mit der Ankündigung, Flüchtlinge nicht mehr am Grenzübertritt in die EU zu hindern, hat der türkische Präsident Tayyip Erdoğan tausende Menschen zu politischer Verschubmasse erklärt. In Verbindung mit der aus Grenzabriegelung und Tränengaseinsatz bestehenden Reaktion in Griechenland ist das ein humanitärer Skandal – um das Dringendste als Erstes zu nennen.

Die verzweifelte Lage der Menschen an der türkisch-griechischen Grenze scheint nämlich bisher niemanden besonders zu interessieren: 13.000 Syrer, Afghanen und Iraker – unter ihnen laut Beobachtern viele Frauen mit Kindern – haben von Samstag auf Sonntag die erste Nacht frierend im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland verbracht.

Sollten, wie aus der Türkei am Sonntag zu hören, weitere auf Einreise in die EU hoffende Personen an die türkisch-griechische Grenze kommen, werden dort wohl Elendslager entstehen. Das in Kauf zu nehmen wäre unmenschlich – und in Zeiten des Coronavirus, das sich bei engem Kontakt von Mensch zu Mensch verbreitet, übrigens zusätzlich fahrlässig.

Vor allem aber hat Erdoğan mit seiner Grenzöffnungsankündigung für Flüchtlinge eine politische Bombe gezündet, die den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei akut bedroht. Die Unionsmitgliedsstaaten, die im EU-Rat über asylpolitische Belange bestimmen, befinden sich dadurch in einer Zwickmühle: Setzen sie allein auf Abschottung und hoffen dabei tatenlos auf türkisches Einlenken, riskieren sie, den Kürzeren zu ziehen.

Lassen sie hingegen nach Tagen zunehmenden Drucks zu, dass es zu unkontrollierten Einreisen kommt, beschwören sie damit nicht zuletzt innenpolitische Verwerfungen herauf: Dass in derlei Situationen in Europa vor allem rechte und rechtsradikale Kreise profitieren, hat die große Fluchtbewegung der Jahre 2015/16 gelehrt. Gegenkräfte, die auf menschenrechtskonforme und praxistaugliche Lösungen setzen und Ankommenden zu helfen versuchen, geraten dann rasch in die Defensive.

Ungemütliche Situation

Tatsächlich scharren die Aufwiegler schon mit den Hufen, in Österreich natürlich in Gestalt der FPÖ. In einer Presseaussendung vom Sonntag ist von geöffneten "Flüchtlingsschleusen" und "drohender Masseninvasion" die Rede.

Was also können die EU und ihre Mitgliedsstaaten tun, um diese höchst ungemütliche Situation zu entschärfen? Wichtig ist, dass es an den Unionsaußengrenzen zur Türkei nicht zum Chaos kommt. Um ein solches hintanzuhalten, muss Erdoğan motiviert werden, seine Grenzöffnungsansage zurückzunehmen.

Und zwar nicht ausschließlich durch Geld, also weitere Zahlungen aus der EU, die die Türkei in ihrer Rolle als Auffanglager für in Europa unerwünschte Fremde einbetonieren. Sondern auch durch Entlastung dieses Landes, dem bei aller berechtigten Kritik, etwa am Vorgehen gegen eigene Oppositionelle, zu konzedieren ist, dass es im Rahmen des Pakts mit der EU Schulen, medizinische Versorgung und Sozialhilfe für hunderttausende syrische Flüchtlinge organisiert hat.

Nun, wo aus der Region um Idlib in Syrien kriegsbedingt weitere Zehntausende Menschen in Richtung türkische Grenze streben, braucht es Zusagen für das Resettlement einer substanziellen Zahl von Flüchtlingen aus der Türkei in Staaten der EU. Klar, dazu müssten viele Regierungschefs über ihren Schatten springen. Aber dringlicher als jetzt war das noch nie. (Irene Brickner, 1.3.2020)