Am 2. März öffnete der Vatikan seine Archive bezüglich Pius XII.
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Vatikanstadt – Mehr als 60 Jahre nach dem Tod von Pius XII. hat der Vatikan seine Archive aus der Zeit des historisch umstrittenen Papstes geöffnet. Die ersten Forscher gingen Montagfrüh in das Apostolische Archiv des Kirchenstaates, um dort ihre Arbeit zu beginnen. Wissenschafter aus aller Welt hatten die Freigabe lange gefordert. Papst Franziskus hatte das Ende der Geheimhaltung über das Pontifikat von Pius XII. schließlich im März 2019 angekündigt. Experten erwarten, dass die Auswertung Jahre dauern wird.

Der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf von der Universität in Münster sagte vor dem Einlasstor: "Wir hoffen, dass die Quellen uns Antworten auf die zentralen Fragen geben." Er sei sehr gespannt, was er heute in den ersten Kartons zu sehen bekomme. Mehrere Hundert hatten sich nach der Ankündigung 2019 beim Vatikan darum beworben, in Rom auf Spurensuche in Millionen von Dokumenten zu gehen. Im Fokus dürfte zunächst die Rolle der katholischen Kirche mit Blick auf den Holocaust stehen und die Frage, was ihr Oberhaupt wann über die Judenverfolgung der Nationalsozialisten wusste.

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"Judenrazzia"

Nicht gerade mit Ruhm bekleckerte sich der Papst auch bei der berüchtigten "Judenrazzia" im Oktober 1943 in Rom, bei der 1.022 Jüdinnen und Juden zusammengetrieben und deportiert wurden: Der Vatikan reagierte (zu) spät. Eingebunden in den Einspruch war damals auch der berüchtigte österreichische Bischof Alois Hudal wegen seiner guten Kontakte zu den Nationalsozialisten. Seine konkrete Rolle in dieser Angelegenheit und natürlich vor allem die von Pius XII. sind nach wie vor umstritten.

Dazu trug bei, dass Hudal die Rolle von Pius XII. während der NS-Zeit später negativ darstellte, insbesondere auch in einem Gespräch mit dem jungen deutschen Schriftsteller Rolf Hochhuth Ende 1959. Diese Informationen wurden zur Grundlage von Hochhuths Theaterstück "Der Stellvertreter", das 1963 für einen veritablen Skandal sorgte und erstmals das Verhalten der Kirche und von Pius XII. sehr öffentlichkeitswirksam thematisierte.

Zeitalter der Extreme

"Im Pontifikat von Pius XII. verdichtet sich gewissermaßen das 20. Jahrhundert insgesamt", sagt Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Die knapp 20 Jahre seiner Regierungszeit bildeten "eine Art Scharnier" in einem Zeitalter der Extreme – zwischen den totalitären Diktaturen einerseits und der einsetzenden Demokratisierung andererseits.

Unter Historikern ist die Politik von Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs umstritten.
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Der heutige Tag der Öffnung ist der 81. Jahrestag der Wahl von Eugenio Pacelli (1876–1958) zum Papst am 2. März 1939, zugleich ist dies sein 144. Geburtstag. Üblicherweise würden die Archive erst am 10. Oktober 2028 geöffnet, 70 Jahre nach dem Tod des Papstes. Aber genau wegen der Themen NS-Zeit und Judenverfolgung hatte bereits Johannes Paul II. 2003 verfügt, die Archive Pius' XI. (1922–1939) eher zu öffnen; Benedikt XVI. ordnete dies für Pius XII. an.

Auch für Österreich wichtig

Die Öffnung des Vatikanischen Archivs hinsichtlich des Pacelli-Pontifikats seien auch für Österreichs Bemühungen um die Aufarbeitung kirchlicher Zeitgeschichte eine "gewaltige neue Herausforderung", sagt der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber. Von Interesse sei etwa, welche Informationen während der Kriegsjahre aus österreichischen Kirchenkreisen in den Vatikan gelangten und welche Wirkungen sie dort entfalteten, so Klieber exemplarisch. "Inwieweit gab es Anweisungen und Anregungen der römischen Kirchenzentrale für das Verhalten und Agieren der heimischen Kirchenleute in der Zeit des NS-Regimes beziehungsweise Weltkriegs?", formuliert der Kirchenhistoriker eine weitere Forschungsfrage.

Aber auch zur Einschätzung politischer und kirchlicher Entwicklungen im Österreich der Nachkriegszeit könnten Dokumente aus dem Vatikanischen Archiv neue Erkenntnisse bringen. Eine wesentliches Thema sieht Klieber hier u. a. im Ausmaß des Einflusses der römischen Kurie auf die kirchliche Neuorganisation Österreichs nach 1945, etwa im Hinblick auf die Abkehr vom politischen Katholizismus hin zum Konzept der Katholischen Aktion.

Rund 200.000 archivarische Einheiten warten auf die Forscher.
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Ebenso könnten durch vatikanische Quellen bisher unbekannte Hintergründe im Rahmen von wichtigen Bischofsbestellungen bekannt werden, darunter jene von Franz König für Wien 1956 und Andreas Rohracher 1943 für Salzburg. Gleiches gilt für den spektakulären Rückzug des vom Papst ernannten Wiener Koadjutors Franz Jachym während des laufenden Gottesdienstes zu seiner Bischofsweihe am 23. April 1950 im Wiener Stephansdom. Wie rasch es in diesen Fragen zu Ergebnissen kommen kann, ist freilich noch unklar. Österreichs Kirchenhistoriker verfügten "bei weitem" nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen wie Kollegen in anderen Ländern, allen voran Deutschland, erinnerte Klieber gegenüber Kathpress.

200.000 archivarische Einheiten

Geöffnet wird nicht nur das Vatikanische Apostolische Archiv, das bis vergangenen Oktober noch "Vatikanisches Geheimarchiv" hieß – wobei "geheim" nur "privat" bedeutete. Auch die Pforten der Archive der Glaubenskongregation und anderer Kurienbehörden werden für Forscher geöffnet. Damit diese dort überhaupt arbeiten können, mussten die Mitarbeiter das gesamte Material erst einmal zusammenstellen und katalogisieren. Und das war viel. 200.000 archivarische Einheiten – Kartons, die wenige Notizzettel oder auch bis zu 1.000 Blatt Papier enthalten können.

Die eigentliche Arbeit der Historiker geschieht an einem der knapp 60 Arbeitsplätze im Benutzersaal des Hauptarchivs. Rund die Hälfte ist für jene reserviert, die sich Pius XII. widmen. Andere Forschungen sollen deswegen nicht komplett blockiert werden. In einem eigenen Indexsaal können sie anhand des Katalogs das Material bestellen, das sie interessiert: maximal fünf Kartons pro Tag.

Unübersichtlicher Dokumentenberg

Für Hubert Wolf und seine Kollegen beginnt nun also eine regelrechte Herkulesarbeit. "Zunächst werden wir versuchen, uns klarzumachen, nach welchem System Akten geordnet wurden", sagt Wolf. Denn da Pius XII. die meiste Zeit ohne Staatssekretär regierte, könnte sich in der Ablagepraxis etwas geändert haben. Von relevanten Dokumenten können sich die Forscher Scans machen lassen. Wer auf Nuntiaturberichte stößt und dazu Näheres wissen will, muss sich ins Archiv des Staatssekretariats begeben. Für die Theologie ginge es hinüber in die Glaubenskongregation.

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Kritikern zufolge hätte Pius XII. den Holocaust deutlich schärfer verurteilen müssen, andere Forscher hingegen sind davon überzeugt, dass er still im Hintergrund wirkte.
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Von den mehr als zwei Millionen Faszikeln allein im Archiv des Staatssekretariats zum Pontifikat von Pius XII. sind inzwischen 1,3 Millionen digitalisiert und teilweise verschlagwortet. Darunter ist auch die Korrespondenz zwischen dem Vatikan und der Nuntiatur in Berlin sowie mit dem deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Was die erwarteten Themen betrifft, sieht Baumeister "die Fortsetzung der Hochhuth-Themen zu hoch gehängt".

Zusammenarbeit mit jüdischen Historikern

Baumeister warnt zudem davor, sich zu sehr auf die Person des Papstes zu konzentrieren. Viele Informationen über Pius und Holocaust sind nach Aussagen von Forschern bekannt. Die Bewertung der Frage, warum der Pacelli-Papst öffentlich nicht deutlicher gesprochen hat, können und werden wohl unterschiedlich ausfallen. Wolf will diese Fragen unbedingt zusammen mit jüdischen Historikern angehen. Mehrfach habe er selbst mit Holocaust-Überlebenden gesprochen. "Wenn mir dabei bald 90-Jährige sagen: 'Sorgen Sie dafür, dass wir erfahren, warum der Papst nicht laut protestierte', und sie geben einer solchen Persönlichkeit die Hand, dann ist das ein moralisches Versprechen, saubere Arbeit zu machen", sagt Wolf.

Zur Holocaust-Thematik seien die meisten Archivbestände in Deutschland, USA und Großbritannien bereits ausgewertet, so Wolf. Etwa zur sogenannten Rattenlinie, also den Fluchtrouten von Nationalsozialisten nach Südamerika am Ende des Zweiten Weltkriegs, sei das jedoch nicht der Fall. Das Material in Argentinien etwa sei angeblich nicht aufzufinden.

Neue Erkenntnisse über die "Rattenlinie"

Nun allerdings würden die Berichte des dortigen Papstbotschafters zugänglich, führt der Kirchenhistoriker aus und fragt: "Was wusste dieser von den Vorgängen?" Einen Pass habe der Vatikan "eventuell noch besorgen" können. Doch ein Mann wie KZ-Arzt Josef Mengele habe in Argentinien nur mit einem Visum einreisen können. "Also musste die Regierung in Buenos Aires mitspielen. War der Nuntius dabei der Mittelsmann?", fragt Wolf, "oder lief das Ganze über die argentinische Botschaft in Rom?" Der Historiker bilanziert seine Erwartungen: "Wir stellen offene Fragen – und müssen mit allen Antworten rechnen."

Pius XII. stand von 1939 bis zu seinem Tod 1958 an der Spitze der Kirche.
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Weitere Erkenntnisse erhoffen sich Wolf und sein Team etwa zum Thema europäische Einigung. "Wir wissen, dass Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi Audienzen beim Papst hatten; jene drei, die das begründeten, woraus die Europäische Union entstanden ist."

Auch seien die Berichte der vatikanischen Gesandtschaft über die Lage in Deutschland interessant, etwa über das Thema Kriegsschuld. Und: "Warum macht der Papst im ersten Konsistorium 1946 drei Deutsche zu Kardinälen: Galen, Frings und Preysing?" Und warum erkannte der Heilige Stuhl den Staat Israel erst 1994 an und nicht nach seiner Gründung 1948? Mit ersten ernsthaften Ergebnissen dürfe man insgesamt frühestens in drei bis fünf Jahren rechnen, so der renommierte Kirchenhistoriker.

Jahrelange Forschung

Aber es brauche Geduld, warnen beide. Drei bis fünf Jahre werde es mindestens dauern, bis seriöse Ergebnisse vorliegen könnten, schätzt Wolf. Damit neue Erkenntnisse etwas taugen, muss viel Material miteinander verglichen, kontrolliert und abgewogen werden. "Wir sind keine Vereinfacher, wir sind Verkomplizierer", warnt Baumeister vor Sensationsmeldungen.

Vertuschungen oder Behinderung seitens des Vatikan erwarten beide nicht. Es gebe sicher ein Interesse, "das Bild von Pius XII. nicht zu sehr angekratzt zu sehen. Ich kann aber nicht sagen, dass der Vatikan verhindern wollte, an bestimmte Dinge ranzukommen", sagt Baumeister. Und sollten Dinge tatsächlich aus Beständen entfernt worden sein, so "würde man das sehen. Mir ist das bisher nicht vorgekommen", beruhigt Wolf. (red, APA, 2.3.2020)