Recep Tayyip Erdoğan ist unter Druck. Der türkische Präsident hat seine Truppen in eine militärische Offensive nach Idlib in Nordsyrien geschickt, wo Syriens Machthaber Assad mit russischer Hilfe einen finalen Krieg gegen Aufständische und die eigene Bevölkerung führt.

Das läuft nicht gut für Erdoğan. Vergangene Woche starben mehr als dreißig türkische Soldaten. Hunderttausende Syrer sind auf der Flucht. Der Präsident suchte die Unterstützung der europäischen Nato-Partner.

Die wollen sich wohlweislich in seine Machtspiele nicht hineinziehen lassen, umso weniger, als er sie durch Tändeleien mit Russlands Präsident Wladimir Putin – dem eigentlichen Kriegsherrn in Syrien – düpiert hatte. Gegen Moskau laufen EU-Sanktionen wegen des Ukraine-Konflikts.

Für die Europäer ist all das also ein besonders heikles Terrain, nicht nur diplomatisch. Sie sind seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien zwar größter Geber, was humanitäre Hilfe betrifft. Aber die Europäische Union hat es nie geschafft, dort politisch Boden unter den Füßen zu kriegen, sich um Frieden zu bemühen.

Recep Tayyip Erdoğan versteht nur die Sprache der Härte.
Foto: APA/AFP/ADEM ALTAN

Und der große Zulauf von Flüchtlingen aus Syrien (und aus anderen Krisengebieten) führte 2015 zu einer der größten inneren Zerreißproben, denen die Union je ausgesetzt war. Die EU-Staaten sind noch heute tief zerstritten darüber, wie sie mit Flüchtlingen, die es in den EU-Raum schaffen, umgehen sollen; welche Art von übergreifender Migrationspolitik sie machen wollen. In menschenunwürdigen Lagern auf griechischen Inseln können dieses Versagen alle sehen.

Neue "Fluchtwelle"

Der EU-Türkei-Pakt vom März 2016 hatte zwar Entspannung gebracht. Die Türkei sorgte dafür, dass die Überfahrten Richtung Griechenland ebenso wie die Landflucht nach Bulgarien weitgehend unterblieben. Die EU zeigte sich dafür im Gegenzug großzügig, genehmigte für die Versorgung von 3,8 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei sechs Milliarden Euro, von denen 3,3 Milliarden bereits ausgezahlt wurden. Dieser Vertrag läuft nach vier Jahren Laufzeit nun aus.

Was macht also ein autoritärer Herrscher wie Erdoğan, dem Grundrechte wenig wert sind, wie er im Umgang mit der Justiz im eigenen Land beweist, wenn er an der Südostgrenze massive Probleme hat, die er selbst miterzeugte? Er zettelt im äußersten Westen seines Landes, an den Grenzen zu den EU-Staaten, einen neuen Konflikt an.

Nichts anderes ist die neue "Fluchtwelle" an dieser EU-Außengrenze. Es sind laut der EU-Grenzbehörde Frontex nicht sehr viele Syrer darunter. Das entspringt dem zynischen Kalkül des Machthabers in Ankara: Er will einerseits ablenken, andererseits den Druck auf die EU-Partner erhöhen – durch Chaos und Verwirrung.

Es besteht kein Zweifel, dass dieses Vorgehen ein Bruch der Vereinbarungen ist. Diese sehen vor, dass "irreguläre" Migranten in die Türkei zurückgebracht und im Gegenzug registrierte syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei per "Umsiedlung" nach Europa gebracht werden. Genau jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, dieses Prinzip zu reaktivieren. Die Lage an dieser EU-Außengrenze wird zum Testfall.

Die EU-Staaten dürfen Erdoğans Erpressung nicht nachgeben. Es ist legitim und richtig, die Grenzen zu schützen. Glaubwürdig wird das aber nur, wenn auch die anderen Teile der EU-Beschlüsse zur Migration umgesetzt werden: humanitäre Hilfe für Flüchtlinge auch in der Türkei. Darüber muss man mit Erdoğan reden, trotz allem. (Thomas Mayer, 2.3.2020)