Dieses Bronzefragment (13,2 mal 5,5 Zentimeter) schlummerte mehr als 100 Jahre im Depot des Wien-Museums. Bis ein Doktorand der Uni Wien in den schwer leserlichen Zeichen eine neue Bedeutung entdeckte.
Foto: Wien-Museum / Birgit und Peter Kainz

Niklas Rafetseder tat gerade, was Epigrafiker so tun: Er durchforstete Datenbanken für alte Inschriften auf der Suche nach Informationen in Form von meist verwitterten, kaum leserlichen lateinischen Buchstaben, die ihm bei seiner Dissertation helfen könnten. Doch dann spuckte der Computer einen Eintrag aus, der ihn stutzig machte. Es handelte sich um ein unscheinbares, längliches Bruchstück einer Bronzetafel, nicht viel mehr als 13 Zentimeter hoch. Die einzigen zwei Wörter, die man eindeutig entziffern konnte, kamen ihm in dieser Kombination äußerst bekannt vor. Doch noch mehr staunte er, als er die Herkunft des archäologischen Fundes sah: Vindobona.

Das war im Jänner 2019. Ein Jahr intensiver Nachforschungen später ist klar: Rafetseder, ein 28-jähriger Doktorand am Institut für Alte Geschichte der Universität Wien, hat mit seiner Entdeckung eine Sensation gelandet. Er zeigte, dass die wenigen erkennbaren Zeichen des Fragments, das seit mehr als 100 Jahren im Depot des Wien-Museums schlummerte, eine ganz andere Bedeutung hatten als bisher angenommen. Und zwar eine nicht unerhebliche für die Wiener Stadtgeschichte. Die Bronzetafel ist Teil eines römischen Stadtgesetzes – aufgrund der Umstände mit höchster Wahrscheinlichkeit das von Vindobona.

Römisches Stadtrechtsrätsel

Damit gibt es erstmals einen sehr deutlichen Hinweis darauf, dass auch Vindobona ganz offiziell eine römische Stadt war. Auch wenn das schon vermutet wurde – im Gegensatz zu vielen anderen Städten im Donauraum gab es dafür keinerlei gesicherte Beweise. Bisher war nur belegt, dass das mittelalterliche Wien seit 1221, 1000 Jahre nach der Glanzzeit des römischen Legionslagers Vindobona, ein Stadtrecht besaß. Am Dienstag präsentierte Bürgermeister Michael Ludwig, selbst studierter Historiker, das Fragment mit dem nunmehr ältesten Stadtgesetz Wiens. Es ist ab 6. März im Römermuseum zu sehen.

Das Bronzefragment selbst wurde bereits 1913 bei Grabungen an der Adresse Am Hof in der Wiener Innenstadt gefunden – dort, wo einst die Mauer des Legionslagers verlief. Von den 41 Zeichen konnten nur die Wörter "edicta" und "Galba" identifiziert werden. Archäologen und Historiker schlugen vor, dass es sich um ein Edikt des Kaisers Galba handeln könnte, der von 68 bis 69 n. Chr. nur wenige Monate regierte. Das Fragment wurde ad acta gelegt und verschwand für die meiste Zeit im Depot des Wien-Museums.

Niklas Rafetseder (28) ist Latein- und Geschichtslehrer, daneben schreibt er an seiner Dissertation zu römischen Stadtgesetzen.
Foto: Wien-Museum / Lisa Rastl

Hier kommt Niklas Rafetseder ins Spiel. "Römische Geschichte hat mich immer schon interessiert", sagt der Latein- und Geschichtslehrer, der seit Herbst 2018 am Gymnasium Waidhofen an der Ybbs unterrichtet und daneben an seiner Dissertation zu römischen Stadtgesetzen schreibt. "Allein im westlichen Teil des Römischen Reichs könnte es mehr als 1000 Gemeinden gegeben haben, die den privilegierten Status eines Munizipiums oder einer Colonia erhielten", sagt Rafetseder, der 2018 mit dem Theodor-Körner-Förderpreis ausgezeichnet wurde.

"Ein Stadtgesetz umfasste, soweit es uns bekannt ist, in der Regel etwa zehn Tafeln in der Größe von 90 mal 60 Zentimetern. Es müssen zumindest theoretisch Tausende dieser Bronzetafeln existiert haben." Erhalten sind jedoch nur sehr wenige, meist in Form kleiner Fragmente – Bronze war ein begehrtes Metall, so wurden die meisten Tafeln in der Spätantike eingeschmolzen und recycelt.

Andalusischer Fund

1986 wurden jedoch in Andalusien sechs Tafeln des römischen Stadtgesetzes der bis dahin unbekannten Stadt Irni aus dem 1. Jh. n. Chr. entdeckt. "Seither sind 70 Prozent dieses Stadtgesetztextes bekannt", sagt Rafetseder. Der Text stammt aus einer Vorlage für alle Stadtgesetze und wurde höchstens leicht abgewandelt. "Durch meine Forschungen kannte ich den Text praktisch auswendig. Daher erkannte ich gleich die Parallele zwischen den Texten aus Irni und jenen aus Vindobona", berichtet Rafetseder über seine Entdeckung.

Die ausschlaggebenden Worte waren "edicta" und "Galba", die zu einer feststehenden Formulierung im Gesetzestext gehören. "In bestimmten Passagen wird darauf hingewiesen, dass etwas nur geschehen darf, wenn es nicht gegen die Edikte des Kaisers und seiner Vorgänger verstößt. Dabei werden sämtliche Kaiser aufgezählt, darunter auch Galba." Daneben weisen auch die Buchstaben "muni" auf ein Munizipium hin.

Rekonstruktion einer gesamten Stadtrechtstafel samt eine der Möglichkeiten, an welcher Stelle sich das Fragment befunden haben könnte.
Foto: Wien Museum/Stadtarchöologie

"Wir wissen nun, dass es sich bei der Tafel um ein römisches Stadtgesetz handelt", sagt Rafetseder. "Auch wenn Vindobona nicht erwähnt wird, kann man davon ausgehen, dass es sich auf die Zivil- oder Lagervorstadt Vindobonas bezieht." Eine genaue Datierung der Tafel ist zwar nicht möglich, aufgrund archäologischer Befunde nimmt Rafetseder aber an, dass das Stadtrecht Ende des 2. oder Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. verliehen wurde, wie er in seiner Arbeit darlegt, die im März in der vom Institut für Alte Geschichte der Uni Wien herausgegebenen Fachzeitschrift Tyche veröffentlicht wird. Im Lauf des 3. Jh. dürfte in der Siedlung bereits ein Abwärtstrend eingesetzt haben. Das würde auch erklären, warum bisher keine anderen Zeugnisse des Munizipalstatus, etwa in Form von Nennungen auf Grabsteinen, gefunden wurden.

Neue Erkenntnisse könnten aber im Zuge von Bauarbeiten jederzeit auftauchen, ist Rafetseder überzeugt: "Ich denke, dass sich auch dieses Rätsel noch irgendwann lösen lässt." (Karin Krichmayr, 4.3.2020)