Kein verbales Schlammcatchen, sondern Diskutieren ohne Tabus: ORF-3-Chef Peter Schöber.

Foto: ORF/Pichlkostner

Wien – Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 65 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet, und es hieß: "Österreich ist frei." Die zwei Jubiläen sind der zeitgeschichtliche Anker im neuen Programm von ORF 3. Dazu plant der Kultur- und Informationssender des ORF noch jede Menge Klassik- und Konzertproduktionen, die Dokureihe "Österreichs Adel – So lebt er heute", die "Geschichte des österreichischen Kabaretts" und ein neues "Streitgespräch". In der zehnteiligen Reihe "Tanzcafé Franz" suchen ab Sommer 2020 ältere Menschen einen Partner fürs Leben. ORF 3 kommt auf ein Programmbudget von 13 Millionen Euro und rund 50 Mitarbeiter.

STANDARD: Eva Blimlinger, die Mediensprecherin der Grünen, hat im STANDARD-Interview gesagt, dass ORF 3 von einem Archivsender hin zu einem Sender positioniert werden soll, der sich mehr um Experimentelles und die junge Kunstszene kümmern soll. Ist das für Sie ein Weg?

Schöber: Wir sind schon lange kein Archivsender mehr. Das war in der Startphase sicher so. In den ersten zwei Jahren hatten wir 80 Prozent der Sendeflächen zwischen 19 und 24 Uhr mit Archivware und Zweitspielungen aus dem Konzern bestückt. Mittlerweile bespielen wir fast 85 Prozent der Premiumflächen mit Eigen-, Auftrags- und Koproduktionen. Dieser Anteil an Eigenprogramm ist weit höher als jener bei den meisten Privatsendern. Das muss uns erst einmal jemand nachmachen.

STANDARD: Vielleicht vermisst Blimlinger Programm für die jüngere Zielgruppe?

Schöber: Im ersten Jahr des Bestehens haben wir drei Klassikkonzerte produziert, heuer machen wir über 50. Im Bereich junge österreichische Pop- und Rockmusik sind es über 20 Konzertproduktionen. Dazu zählt die Kooperation mit FM4 im Rahmen der "Live @ RKH"-Schiene aus dem Radiokulturhaus, die wir erfolgreich ins Fernsehen bringen. Im Kleinkunstbereich haben wir eine Jugendschiene – etwa mit "Kabarett im Turm". Und zum Infobereich: Der große ORF-3-Anteil am gesamten ORF-Infoprogramm ist die Leistung einer kleinen, schlagkräftigen Infotruppe rund um Chefredakteurin Ingrid Thurnher.

STANDARD: Die Regierung wälzt ja Überlegungen, das ORF-Archiv, das ein wichtiger Baustein von ORF 3 ist, den Privatsendern in irgendeiner Form zugänglich zu machen. Was halten Sie davon?

Schöber: Es braucht verbindliche Spielregeln. Das Archiv ist ein integraler Bestandteil des ORF, der seit Jahrzehnten das multimediale Gedächtnis des Landes ist. Es wäre schwierig, wenn dieses ORF-Material den Privatsendern zur Verfügung gestellt wird, damit die ihre Gewinne maximieren können. Ich bin aber nicht berufen, das zu beurteilen – das müssen sich andere ansehen. Nur wäre es befremdlich, wenn sich die Dividende bei internationalen Hedgefonds, die im Besitz von Privatsendergruppen sind, erhöht, weil sie das ORF-Archiv plündern. Ich glaube aber nicht, dass es so intendiert ist.

STANDARD: Für das neue ORF-3-Programm kündigen Sie wieder viel Zeitgeschichte an. Was ist geplant?

Schöber: Wir planen 40 Neuproduktionen. Ein Teil ist ein großes Zeitzeugenprojekt, das wir gemeinsam mit österreichischen Universitäten realisieren. Wir lassen die letzten noch lebenden Zeitzeugen der Gründungstage der Republik zu Wort kommen. Hunderte aus ganz Österreich haben sich gemeldet, daraus entstehen einige Zeitgeschichteproduktionen. Menschen, die zu Kriegsende zehn Jahre alt waren, sind mittlerweile 85 Jahre alt. Es ist uns ein großes Anliegen, das anlässlich von 75 Jahre Kriegsende und anlässlich von 65 Jahre Staatsvertrag mit den berühmten Worten "Österreich ist frei" zu transportieren. Hugo Portisch ist zum Beispiel einer der zwei noch lebenden Zeitzeugen, die im Belvedere bei der Unterzeichnung dabei waren.

STANDARD: Sie kommunizieren zwar, dass ORF 3 im Schnitt 800.000 Zuseher pro Tag hat, wollen aber keine Marktanteile nennen. Warum?

Schöber: Wir haben den erfolgreichsten Jänner und erfolgreichsten Februar seit Senderbestehen abgeschlossen. Aber Quotengeierei ist nicht meine Sache und nicht der Kernfokus des Senders. Wir werden täglich von zehn Prozent der Bevölkerung gesehen, damit liegen wir weit vor allen vergleichbaren Sendern. Wir haben das Programmschema, das wir zum Senderstart entwickelt haben, im Kern nicht verändert. Klassik und Oper am Sonntag, dann kommt der Themenmontag, der sehr konsumentenorientiert ist, der Dienstag wird mit Kultur und Geschichte bespielt. Der Mittwoch steht im Spannungsfeld zwischen Religion, Wissenschaft und Heimat, der Donnerstag ist aktueller Politik gewidmet, der Freitag steht im Zeichen des österreichischen Films, und am Samstag dominieren Zeitgeschichte und Kleinkunst sowie Musik. Wir gewinnen jedes Jahr Seher dazu.

STANDARD: Die Zuseher finanzieren ORF 3 über die ORF-Gebühren. Haben die nicht das Recht zu erfahren, welche Marktanteile mit ihren Geldern erzielt werden?

Schöber: Marktanteile sind die falsche Währung für den Sender. Wir legen zu, und das ist erfreulich, aber Marktanteile sind nicht unser Kernfokus. Zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung schauen uns jeden Tag, das ist ein sehr guter Wert.

STANDARD: Wie oft hören Sie den Satz noch, dass es schade ist, dass etwas "nur" auf ORF 3 gesendet wird, aber eigentlich auf ORF 2 laufen müsste?

Schöber: Das ist eine Diskussion, die ich für obsolet halte. ORF 3 stellt seine Berechtigung jeden Tag unter Beweis. Im Rahmen der ORF-Flotte hat ORF 3 eine eigene Programmidentität entwickelt, um die uns viele beneiden.

STANDARD: Der "Stammtisch", der 2019 als Talkformat ins Leben gerufen worden ist, ist schon wieder Geschichte, oder? Er findet sich nicht im neuen Programm.

Schöber: Wir haben das probiert. Wir haben mit Ingrid Thurnher ein Infoteam, das aus acht Leuten besteht, und wenn dann bei Anlässen wie dem Ibiza-Video und den Neuwahlen – zusätzlich zu den regulären Sendungen – kurzfristig dutzende Sondersendungen kommen, dann sind die Ressourcen begrenzt. Das "Stammtisch"-Format ist nicht schlecht gegangen, wir haben aber einfach nicht die Kapazität. Unsere Stärke ist – in Abstimmung mit ORF 2 –, bei hoher Ereignisdichte sehr schnell einzusteigen und live berichten zu können. Wir übertragen zum Beispiel die Coronavirus-Pressekonferenzen live.

STANDARD: Eine alte, immer wiederkehrende Forderung oder ein Wunsch ist, den "Club 2" wiederzubeleben. Ist das noch ein Thema?

Schöber: Das ist der ewige Wiedergänger der Fernsehgeschichte. Was uns gut gelungen ist, ist die "Runde der ChefredakteurInnen". Der "Club 2" hatte seine Zeit. Außer ORF 1 und ORF 2 gab es damals keine Sender, heute ist das ja anders zu bewerten. Was mir wichtig ist: Wir pilotieren gerade ein Format mit Heinz Sichrovsky, bei dem es um die Diskussionskultur geht. Früher hat man gesagt: "Ich bin zwar nicht deiner Meinung, ich würde aber als Demokrat mein Leben dafür geben, dass du sie sagen kannst." Heute hat sich das sehr gedreht, und man hört ganz oft: "Das darfst du ja heute nicht mehr sagen." Diese moralische Überhebung findet sich immer öfter.

STANDARD: Dem wollen Sie mit einem "Streitgespräch" Rechnung tragen, wie sich das Format nennt?

Schöber: Wir wollen eine Exponentin oder einen Exponenten unterschiedlicher Lager für ein wirkliches Streitgespräch zusammenführen. Das soll kein verbales Schlammcatchen sein, sondern zwei prononcierte Vertreter sollen ihre Meinungen sagen, ohne dass man fragt: "Darf man das noch sagen?"

STANDARD: Sollen sich da Politiker oder Promis verbal duellieren oder Leute aus dem Volk?

Schöber: Bei der Handke-Diskussion haben wir erlebt, wie diese selbst innerhalb des Kulturlagers polarisiert. Gesehen hat man das sehr gut, als Staatssekretärin Ulrike Lunacek sagte, dass Handke in seinen persönlichen Äußerungen vielleicht nicht unbedingt ein Vorbild sei. Mehr hat es nicht gebraucht, und sie hat einen Shitstorm geerntet. Das wäre zum Beispiel ein gutes Thema für eine Diskussion: Kann man den Künstler vom Werk trennen? Dieser Diskurs wurde bei der Handke-Debatte kaum geführt, weil vielleicht die Angst vor einem Shitstorm da war.

STANDARD: Ein neues, zehnteiliges Format nennt sich "Tanzcafé Franz" und wird als Sendung vorgestellt, bei der sich Ältere finden sollen, um gemeinsam durchs Leben zu gehen. Wird ORF 3 auch noch zum Kuppelsender?

Schöber: Nein, Kultur per se verbindet ja die Menschen. Hier wollen wir die Protagonisten über ihre Interessen für Kunst und Kultur zusammenbringen. Das ist ein nettes Format, aber nicht das wichtigste, sagen wir einmal so.

STANDARD: Genauso wie die versteckte Kamera, die ab Herbst 2020 bei "Undercover Artist" zum Einsatz kommen soll. Was dürfen sich die Zuseher von dem Format erwarten?

Schöber: Wir wollen schauen, wie es zum Beispiel ist, wenn man einen Startenor in die Fußgängerzone stellt. Bleibt jemand stehen und schmeißt Geld in den Hut? Diese Dinge zielen für mich darauf ab, dass man Kultur greifbar macht. So erklärt sich auch der Erfolg des Late-Night-Talks "Denk mit Kultur", wo eine Gast aus der Hoch- und einer aus der Populärkultur mit Birgit Denk gemeinsam singt. Mit diesen Personen erreicht man auch ein anderes Publikumsumfeld.

STANDARD: Sehen ORF 3 viele Mitarbeiter als Sprungbrett in Richtung ORF 1 oder ORF 2?

Schöber: Wir haben eine erstklassige Zusammenarbeit mit den anderen ORF-Sendern, da kommt es auch immer wieder zu Personalrochaden in alle Richtungen. Das ist in einem Konzern durchaus üblich. ORF 3 hat ein sehr eigenes Recruiting-System, um junge Mitarbeiter zum Sender zu holen. Für den ORF ist das insgesamt wichtig. Jeder neue Mitarbeiter macht vorher ein Praktikum, das bezahlt wird, was nicht selbstverständlich ist in der Branche. Aus dem Pool der Praktikanten generieren wird die Neuanstellungen. Tatsächlich wollen auch aus dem Konzern Mitarbeiter bei uns arbeiten. (Oliver Mark, 4.3.2020)