Am ursprünglichen Sitz der Pariser Bibliothèque Nationale in der Rue de Richelieu 58 wird eine Marmortafel aufbewahrt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Grabstätte von Jesus Christus stehen soll. Die Tafel – so nehmen einige Experten zumindest an – war nach dem Verschwinden des Leichnams Jesu vor seinem Grab angebracht worden und droht in griechischer Sprache Grabräubern mit der Todesstrafe, sollten sie von ihrem Tun nicht Abstand nehmen. Viele Bibelwissenschafter halten die 60 Zentimeter hohe Tafel daher für das älteste physische Artefakt im Zusammenhang mit dem Christentum. Dass die berühmte "Nazareth-Tafel" tatsächlich ist, wofür sie von einigen gehalten wird, war bisher freilich keineswegs belegt.

Bei Antiquitätenhändler erworben

Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte das Relikt durch den ehemaligen Kurator im Louvre, Wilhelm Fröhner. Dieser erwarb die Tafel 1878 in Paris, wahrscheinlich von einem Antiquitätenhändler aus Griechenland oder dem Nahen Osten, und bewahrte sie bis zu seinem Tod in seiner Privatsammlung auf. Fröhner hinterließ eine kryptische Notiz, wonach die Tafel "aus Nazareth kam". Dieser Hinweis verführte den französischen Archäologen Franz Cumont 1930 zu der These, dass die Inschrift mit dem Verschwinden des Körpers von Jesus zusammenhängen könnte.

Seit über 140 Jahren befindet sich die "Nazareth-Tafel" in Paris und gibt Historikern Rätsel auf.
Foto: Bibliothèque nationale Paris

"Edikt des Cäsar" drohte Grabräubern

Weitere Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich aus dem 22-zeiligen Text selbst. In dem "Edikt des Cäsar" droht der Kaiser jedem die Todesstrafe an, der das Grab beraubt oder "die dort begrabenen Personen hervorholt". Einige Bibelwissenschafter interpretierten diese Passagen als Reaktion des römischen Kaisers auf die Nachricht, dass der Körper von Jesus in seinem Grab fehlte und auferstanden sei. Gegen diese Lesart führten Epigraphiker in jüngerer Zeit jedoch an, dass das auf der Inschrift verwendete Griechisch vor 2.000 Jahren außerhalb Griechenlands und der Türkei nur selten verwendet worden sei.

Um dem Geheimnis ihrer Herkunft endgültig auf die Spur zu kommen, untersuchte der Historiker Kyle Harper von der University of Oklahoma die Tafel noch einmal gründlich. Dabei erhielt er die Erlaubnis, eine winzige Probe von der Rückseite der Steintafel zu entnehmen. Geochemiker, ebenfalls von der University of Oklahoma, zerrieben etwa ein Milligramm davon zu Pulver und bestimmten das Verhältnis von Kohlenstoff- und Sauerstoffisotopen in den Mineralien des Marmors.

Dabei zeigte sich, dass der chemische "Fingerabdruck" der Tafel mit der Signatur von weißem Marmor aus einem kleinen Steinbruch auf der griechischen Insel Kos vor der türkischen Küste übereinstimmt – also keineswegs aus Nazareth stammt. Harper räumt im "Journal of Archaeological Science" zwar ein, dass die Untersuchung einen Transport des Steins aus Kos nach Galiläa, um dort erst beschriftet zu werden, nicht widerlegen würde. Wahrscheinlich sei das jedoch nicht.

Wem galt die Tafel?

Wenn also die Tafel nicht vor dem Grab Jesu angebracht war, welchem Zweck diente sie dann? Auf Grundlage des Stils der Inschrift und des Alters des Steinbruchs vermuten Harper und seine Kollegen, dass das Objekt im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung für einen Herrscher namens Nikias auf Kos hergestellt worden ist. Ein antikes griechisches Gedicht weiß davon zu berichten, dass um 20 vor unserer Zeitrechnung wütende Bürger von Kos Nikias' Grab öffneten und seinen Leichnam hervorzerrten.

Möglicherweise habe der damalige Kaiser Augustus, der nachweislich von Nikias wusste, die "Nazareth-Inschrift" anbringen lassen, um Recht und Ordnung in der Region wiederherzustellen, meint Harper. Einen Beweis für diese Schlussfolgerung gibt es allerdings nicht. (tberg, 7.3.2020)