Möchte man mit einem Schlüssel das Schloss einer Tür aufsperren, ist es nicht unbedingt förderlich, wenn sich die Form des Schlüssels wie von Zauberhand ständig verändert; wenn sich Bart und Zacken an kleinen Achsen drehen oder Bohrungen sich verschieben. Da könnte es eine Zeitlang dauern, bis die richtige Form erscheint und der Schlüssel schließt.

Übertragen auf die nanoskopische Welt der Moleküle wirkt diese Vorstellung gleich viel weniger surreal. Mit dem Mechanismus von Schlüssel und Schloss kann man sich modellhaft verdeutlichen, wie sich ein medizinischer Wirkstoff im Körper des Menschen an den Rezeptor eines Proteins bindet. Passt der Schlüssel zum Schloss, entfaltet sich die größtmögliche Wirksamkeit. Beispielsweise könnte ein Signalweg unterbunden werden mit der Folge, dass eine Krebszelle abstirbt.

Nun ist es aber so, dass die Strukturen der meisten Wirkstoffmoleküle recht flexibel und beweglich sind. Das Molekül muss also Energie aufwenden, um die richtige Form anzunehmen und den Vorteil der Bindung ans Zielprotein zu lukrieren.

Andererseits hat die flexible Form auch zur Folge, dass der Schlüssel in viele weitere Schlösser passt und damit ganz unerwünschte Türen öffnet – welche das sind, ist in der Packungsbeilage des Medikaments unter den Nebenwirkungen zu lesen.

Medizinische Wirkstoffe sollen sich wieder stärker an der Natur orientieren. Die Entwicklung der Molekülstrukturen wird damit aber komplexer und risikoreicher.
Foto: Universität Wien

Starre Form

Es ist also naheliegend zu versuchen, molekulare Schlüssel zu bauen, die nicht so beweglich sind und die in ihrer starren Form gut ins Schloss passen. Genau daran arbeiten Nuno Maulide, Institutsvorstand für Organische Chemie an der Universität Wien, und Kollegen im kürzlich eröffneten Christian-Doppler-(CD-)Labor für Entropieorientiertes Drug-Design.

Gemeinsam mit dem Wirtschaftspartner Boehringer Ingelheim und unterstützt vom Wirtschaftsministerium sollen in den kommenden sechs Jahren neue Strategien für die Entwicklung von Wirkstoffen gefunden werden.

"Die Moleküle, die man in der Natur findet und die das Leben ermöglichen – etwa eine Substanz, die einer Pflanze einen Schutzmechanismus vor bestimmten Insekten verleiht –, haben meist eine räumliche dreidimensionale Struktur", erklärt Maulide.

"Paradoxerweise ist die Pharmaindustrie aber sehr fokussiert darauf, Wirkstoffmoleküle in einer flachen, nur zweidimensionalen Form zu finden. Der Grund: Bei den flachen Varianten ist die Synthese der Moleküle viel einfacher."

Nuno Maulide ist Institutsvorstand für Organische Synthese an der Universität Wien und leitet das Christian Doppler Labor für Entropieorientiertes Drug Design.
Foto: Christoph Liebentritt

Zweifachverbindungen

Gleichzeitig haben diese konventionellen 2D-Wirkstoffe meist hohe Freiheitsgrade. Ihre bewegliche Struktur resultiert aus Einfachverbindungen, bei denen also nur ein Elektronenpaar die Bindung zwischen zwei Atomen vermittelt. Die Einfachbindungen können frei rotieren.

Eine Folge dieser Flexibilität ist, dass die Moleküle in ihrer "Suche nach Schlössern" nicht sehr selektiv sind und gegebenenfalls Nebenwirkungen erzeugen. Dafür ist ihre Entwicklung weniger langwierig und riskant.

Möchte man die Struktur unflexibler gestalten, müssen die Atome etwa in Zweifachverbindungen oder stabile Ringsysteme integriert werden. Maulide und Kollegen suchen nach Möglichkeiten, Moleküle nach diesen Gesichtspunkten zu gestalten.

"Wir wollen die Moleküle von Anfang an so starr wie möglich und in einer 3D-Architektur ähnlich den Substanzen in der Natur konzipieren", sagt der Wissenschafter. Den Ausgangspunkt geben sowohl bisherige flexible Wirkstoffe als auch vollständige Neuentwicklungen.

Maß für die Unordnung

Der Vorteil eines molekularen Schlüssels, der perfekt ins Schloss passt, lässt sich auf das physikalische Grundprinzip der Entropie zurückführen, auf das das CD-Labor schon im Titel verweist. Entropie ist salopp ausgedrückt ein Maß für die Unordnung. Wenn man ein System sich selbst überlässt, nimmt die Entropie zu, die Unordnung wird also größer.

Ordnung lässt sich nur dann schaffen, wenn man dafür Energie aufwendet. Für die flexiblen Moleküle bedeutet das, sie müssen eine "entropic penalty", eine "Entropiestrafe", zahlen, erklärt Maulide. Sie müssen Energie aufwenden, um sich "temporär starr zu machen" und den für sie günstigen Zustand zu erreichen, der etwa die Bindung an das Protein ermöglicht.

Ist die Freiheit aber von Anfang an eingeschränkt, gibt es keine Strafzahlung. Die starren Moleküle passen entweder perfekt oder gar nicht, die flexiblen passen immer ein bisschen, könnte man zugespitzt sagen.

Das Design von Wirkstoffen startet heute mit leistungsfähigen Simulationen. "Die Computermodelle sind sehr mächtig geworden. Der tatsächlichen Realität der Natur können sie aber dennoch nicht voll entsprechen. Es bleiben Annäherungen", erklärt Maulide. "Artificial Intelligence hat in diesem Bereich sehr viel gebracht. Vieles von dem, was wir machen, wäre vor 15 Jahren nicht möglich gewesen."

Computermodelle sind wichtig, um neue Wirkstoffe zu testen, aber letztlich geht es nicht ohne Experimente.
Foto: Universität Wien

Experimentieren gehört dazu

Das tollste Computermodell einer Molekülstruktur bringt aber nichts, wenn es im Labor nicht umsetzbar ist. Maulide: "Man muss sich fragen: Was ist realisierbar? Für realistische Varianten überlegen wir uns, wie eine Synthese aussehen könnte, welche chemischen Reaktionen uns ans Ziel führen können. Experimentieren gehört dazu."

Der Ansatz birgt eine Möglichkeit, aus dem "Flachland" der Wirkstoffentwicklung, die lediglich auf 2D-Varianten abzielt, herauszukommen und zu den 3D-Vorbildern der Naturwirkstoffe zurückzukehren. "In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es viel Naturstoffforschung in der Pharmabranche, die beispielsweise die traditionelle Medizin in Afrika, Asien oder Südamerika unter die Lupe nahm.

Mit der Etablierung der einfacheren 2D-Wirkstoffe wurden diese Abteilungen zugesperrt", blickt Maulide zurück. "So flach wird es länger nicht mehr bleiben können." (Alois Pumhösel, 8.3.2020)