Flüchtlinge und Migranten, die nahe der griechisch-türkischen Grenze auf der griechischen Seite festgenommen wurden.

Foto: AFP/SAKIS MITROLIDIS

Neuer Flüchtlingsdeal

Viele, auch die österreichische Bundesregierung, sind dagegen, dem "Erpressungsversuch" des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nachzugeben. Andere hingegen, wie der Migrationsforscher Gerald Knaus, sehen genau das als Ausweg: einen neuen Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Es wäre die Option, die man am schnellsten umsetzen könnte. Im Zuge eines neuen Abkommens würde die EU die Fortzahlung von Hilfsgeldern für die knapp vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei garantieren. Gleichzeitig würde die EU die Türkei auch entlasten, indem sie eine festgelegte Zahl von Flüchtlingen aufnimmt. Im Gegenzug schließt Erdoğan wieder die Grenzen.

Nachdem zuletzt tausende Menschen versucht haben, von der Türkei aus in die EU zu gelangen, will die den Grenzschutz in Griechenland aufstocken: 700 Millionen Euro und 100 zusätzliche Frontex-Beamte sollen den Griechen zur Abwehr der Menschenmassen geschickt werden.
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Bei dieser Entscheidung muss berücksichtigt werden, dass die Türkei das Land ist, das weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Lange ist das Land auch relativ gut damit umgegangen, doch im Zuge der Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr kam es vermehrt zu Spannungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Es wäre also gerechtfertigt, die Türkei diesbezüglich zu unterstützen. Auf der anderen Seite ist es Erdoğan selbst zuzuschreiben, dass durch sein Abenteuer in Syrien weitere Flüchtlinge in sein Land kommen und sich dadurch dort die Situation verschärft.

Doch wie gesagt, ein Deal wäre die derzeit einfachste Lösung. Ob diese von Dauer wäre, ist zu hinterfragen, schließlich begibt man sich damit in Abhängigkeit von Erdoğan. Doch das war auch schon beim Abschluss des ersten Abkommens im März 2016 bekannt.

2015/16 wiederholt sich

Gibt es keinen Deal, wird es vermutlich zu einem Szenario ähnlich dem von 2015/16 kommen. Zwar können die Landgrenzen zwischen der Türkei und Bulgarien bzw. Griechenland relativ gut dichtgemacht werden, anders verhält es sich aber bei den Seegrenzen. Es ist ein Problem, das es auch auf der zentralen Mittelmeerroute von Libyen nach Italien gibt und das auch abertausende EU-Grenzbeamte nicht lösen können: Man kann Flüchtlinge und Migranten auf hoher See abfangen, doch wohin dann mit ihnen?

Die Türkei wird sie sicherlich nicht zurücknehmen, also werden sie mangels anderer Optionen zwangsläufig auf die griechischen Ägäis-Inseln gebracht. Dort, wo schon jetzt zehntausende Flüchtlinge und Migranten unter unmenschlichen Bedingungen leben. Dort, wo es seit Jahren auch zu Spannungen mit den Einheimischen kommt. Nehmen diese überhand bzw. kommen mehr und mehr Menschen an, wird die griechische Regierung irgendwann die Reißleine ziehen und viele von ihnen aufs Festland bringen. Von dort machen sie sich in Richtung Zentraleuropa auf. An jeder Landesgrenze werden sie kurzzeitig gestoppt, bis der Druck zu groß ist und sie durchgewinkt werden.

Und dann kommt vielleicht als Lösung doch wieder ein Deal mit der Türkei ins Spiel.

Das australische Modell

Vereinzelt ist es schon so weit, dass sich EU-Mitgliedsstaaten nicht an internationale Menschenrechtskonventionen halten: Kroatien etwa führt an der Grenze zu Bosnien seit Jahren Push-Backs durch, also illegale Abschiebungen. Dies widerspricht dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung, der auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehalten ist und der keine Ausnahmen zulässt. Ein weiteres, aktuelles Beispiel: Griechenland setzt das in zahlreichen Konventionen festgelegte Recht auf Asyl aus. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis kündigte vor wenigen Tagen an, dass das Land einen Monat lang keine neuen Asylanträge annehmen werde.

Ignoriert man mehr und mehr die menschenrechtlichen Grundsätze, dann wäre auch die sogenannte Pazifische Lösung, also das australische Modell, eine Option. Die "Operation Souveräne Grenzen" besteht im Kern darin, Bootsflüchtlinge auf offener See zur Umkehr zu bewegen oder in Internierungslager auf extraterritorialen Inseln zu bringen. Auf Europa umgemünzt würde das bedeuten: Die EU findet einen Ort, womöglich eine Insel, auf der sie auf hoher See abgefangene Flüchtlinge und Migranten unterbringt, ohne Chance auf Asyl oder Weiterbeförderung in andere Teile der Union. Hält man sich exakt ans australische Modell, sind die Bedingungen in den Lagern unmenschlich. Die einzigen Optionen für die Menschen dort sind die Rückkehr in die Heimatländer oder die Umsiedlung in Drittländer, mit denen entsprechende Deals abgeschlossen wurden. Australien etwa hat Kambodscha mehrere Millionen an Entwicklungshilfe überwiesen, damit das Land Flüchtlinge von den Inseln aufnimmt.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat dieses Modell bereits vor Jahren für die EU vorgeschlagen, allerdings ohne konkret zu sagen, wo diese Lager errichtet werden sollten. Ein Land zu finden, das sich bereiterklärt, solche Einrichtungen auf seinem Territorium zu genehmigen, wird sehr schwierig sein. Und dann wären wie gesagt noch die Grund- und Menschenrechte, mit denen dieses Modell nicht einmal ansatzweise in Einklang stünde.

Seegrenzen schließen

Es ist eigentlich ein unmögliches Unterfangen, aber wenn es die EU schafft, die Seegrenzen effektiv zu schließen, könnten die Flucht- und Migrationsbewegungen über die zahlreichen Mittelmeerrouten der Vergangenheit angehören. Griechenland etwa kündigte Anfang Februar an, schwimmende Zäune zu errichten. Versuchsweise soll vor Lesbos eine drei Kilometer lange Barriere mit Blinklichtern installiert werden, die einen halben Meter aus dem Wasser ragen soll. Sollte sich dies als Erfolg erweisen, könnte diese auf 13 bis 15 Kilometer erweitert werden, erklärte die Regierung in Athen.

Experten halten diese Idee für sinnlos, Flüchtlinge und Migranten würden einfach andere Wege nehmen, hieß es. Und, wie ein Offizier der griechischen Küstenwache erklärte, würden Menschen die Barriere erreichen, wären sie bereits in griechischen Hoheitsgewässern und müssten daher gerettet werden. Wie gesagt, es ist eigentlich unmöglich, die Seegrenzen zu schließen, aber nicht komplett auszuschließen.

Die EU schafft es allein

Ein Szenario, das absolut wünschenswert wäre, aber leider auch sehr unwahrscheinlich ist: Die EU ignoriert die Forderungen Erdoğans und nimmt die Zügel selbst in die Hand. Die Menschen an der Außengrenze werden in die EU gelassen. Sie alle werden registriert, erhalten ein ordentliches Asylverfahren – womöglich über das längst fällige gemeinsame EU-Asylsystem –, das in einem kurzen Zeitraum durchgeführt wird. Jene, die bleiben dürfen, werden nach einem fairen Schlüssel auf die EU-Mitgliedsstaaten aufgeteilt, sodass sich kein Land benachteiligt bzw. überfordert fühlt. Jene, die einen negativen Bescheid erhalten, werden zeitnah in ihre Herkunftsländer gebracht. Dazu hat die EU entsprechende Rücknahmeabkommen abgeschlossen. Das alles spricht sich schnell in den Herkunfts- und Transitstaaten herum, sodass mittelfristig weniger Menschen versuchen werden, nach Europa zu gelangen.

In der Umsetzung hakt es allerdings an nahezu allem: an schnellen Asylverfahren, einem gemeinsamen EU-Asylsystem sowieso, an einer fairen Verteilung der Flüchtlinge und an Rücknahmeabkommen. (Kim Son Hoang, 4.3.2020)