Ein Mann wirft den Reifen in die Luft, der ihn im Meer vielleicht über Wasser hielt: Weiterkommen für Flüchtlinge ist von der griechischen Insel Lesbos derzeit nicht möglich.

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Gerald Knaus hat einen übervollen Terminkalender. Zwei deutsche Minister würden dringend mit ihm sprechen wollen, und am Abend werde er in der Talkrunde bei Markus Lanz auf ZDF Rede und Antwort stehen, schildert der österreichische Soziologe und Migrationsforscher. Auf dem Weg von Berlin nach Hamburg in der wegen unsicherer WLAN-Verbindungen für Handyinterviews wenig geeigneten Bahn fand der Mitinitiator des von Ankara vor wenigen Tagen aufgekündigten Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei dennoch Zeit, dem Standard ein Interview zu geben.

STANDARD: Von der türkisch-griechischen Grenze kamen zuletzt schreckliche Aufnahmen – frierende Menschen vor Stacheldraht, Kleinkinder in Tränengasschwaden. Wie schätzen Sie die Lage ein – und was sind die Optionen?

Knaus: Es gibt drei Möglichkeiten: Erstens könnte Griechenland die Landgrenze zur Türkei öffnen und alle Migranten hereinlassen. Das ist de facto das, worauf die Vorschläge von vielen NGOs hinauslaufen, hat aber nicht einmal die linke griechische Syriza-Regierung 2015 getan – und ist völlig unrealistisch. Die zweite Option ist, dass es so weiterläuft wie derzeit, dass Männer mit Wagen ohne Kennzeichen und ohne Uniformen Leute nach ihrem Grenzübertritt in Griechenland aufgreifen, wegbringen und einschüchtern. Sie also so zu behandeln, dass andere Angst bekommen und es bevorzugen, in der Türkei zu bleiben. Damit wird derzeit massiv EU-Recht gebrochen.

STANDARD: Und die dritte Möglichkeit?

Knaus: Ist eine neuerliche Einigung mit der Türkei, die das bisherige EU-Türkei-Abkommen vor vier Tagen aufgekündigt hat; eine Einigung, die nicht nur, wie bisher, die Meeresgrenze, sondern auch die Landesgrenze zu Griechenland umfasst. Dann könnten Migranten, die über die Landgrenze wollen, EU-Regeln entsprechend Asyl beantragen. Damit würde nicht nur das derzeit in akuter Gefahr befindliche Menschenrecht auf Asyl bewahrt. Sondern die Türkei wäre überdies verpflichtet, Migranten ohne Schutzgründe auch an der Landgrenze zurücknehmen. Die Zahl der Grenzübertritte würde sinken.

STANDARD: Was müsste die EU denn anbieten, damit die Türkei auf ein neues Abkommen eingeht?

Knaus: Um das zu beantworten, hilft es, sich anzusehen, was im Rahmen des bisherigen EU-Türkei-Abkommens gut geklappt hat – und was ausreichte, dass die Türkei in den vergangenen vier Jahren trotz massiver politischer Spannungen an dem Abkommen festhielt. Das eine war die massive finanzielle Unterstützung für Syrer in der Türkei, das andere das Versprechen, dass das Geld schnell verplant und ausgegeben werden musste. Erdoğan hat nicht aus Altruismus gehandelt – ich finde es daher erstaunlich, dass europäische Realpolitiker sich nicht die Frage stellen, warum dieses Abkommen so lange gehalten hat. Dass sie sich nicht überlegen, was das weitere gemeinsame Interesse der EU und der Türkei sein könnte.

STANDARD: Liegt dieses wirklich allein im Geldfluss aus der EU in die Türkei?

Knaus: Nicht ganz. Natürlich wurde der Türkei auch die Umsiedlung Schutzbedürftiger versprochen. Sollte die Zahl von Grenzübertritten in die EU sinken, wie es in den vergangenen Jahren ja der Fall war, sollte ein humanitäres Resettlementprogramm in die EU starten. Das aber war der türkischen Regierung nie so wichtig wie das Geld, was auch verständlich ist. Denn umgesiedelt wurden insgesamt rund 25.000 Personen, das Geld hingegen betrifft Millionen Menschen.


"Wenn viele Boote aus der Türkei nach Griechenland kommen, können auch 20.000 zusätzliche Frontex-Beamte nichts tun", sagt Gerald Knaus.
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STANDARD: Warum haben die, wie Sie sie nennen, europäischen Realpolitiker zuletzt nichts unternommen, um das Abkommen zu erneuern?

Knaus: Nehmen wir das Beispiel Österreich. Hier gab es in den vergangenen Jahren extrem wenig Asylanträge, Erdoğan wiederum ist hier recht unpopulär. Dadurch wurde Geld aus der EU für den Pakt vielfach als Geld für Erdoğan missverstanden, obwohl es in der Türkei den Flüchtlingen zugute kam. Da war es für Politiker bequem zu sagen: "Wir haben genug getan, jetzt reicht es uns." Das dass sehr kurzfristig gedacht war, wurde überdeckt durch die Rhetorik, dass man ja vorbereitet sei und die EU-Außengrenze schließen könne.

STANDARD: Kann man das denn nicht?

Knaus: Nein, das war 2015 eine Illusion – und ist es heute ebenso. Man kann die Außengrenze der EU, die in der Ägäis liegt, nicht abschotten. Wenn viele Boote aus der Türkei über das Meer nach Griechenland kommen, können auch 20.000 zusätzliche Frontex-Beamte nichts tun. Es sei denn, sie stoßen die Boote gegen jedes EU-Recht in türkische Gewässer zurück.

Nachdem zuletzt tausende Menschen versucht haben, von der Türkei aus in die EU zu gelangen, will die den Grenzschutz in Griechenland aufstocken: 700 Millionen Euro und 100 zusätzliche Frontex-Beamte sollen den Griechen zur Abwehr der Menschenmassen geschickt werden.
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STANDARD: Die österreichische Bundesregierung will auch die eigenen Grenzen gegen Flüchtlinge schützen, wenn viele von ihnen über den Balkan kommen sollten. Was sagen Sie dazu?

Knaus: Das richtet sich zum einen an Griechenland: Wen ihr nicht stoppen könnt, der soll bei euch bleiben, denn aus Griechenland aufnehmen wollen wir ja auch niemanden. Die Nachricht ist: Wir schicken euch vielleicht Matratzen, wir schicken auch Geld, aber weil es kein Abkommen mit der Türkei mehr gibt, könnt ihr niemanden zurückschicken. Ihr seid also auf euch allein gestellt – und alle Balkanstaaten auf dem Weg auch. Das ist genau das Vorgehen, das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel 2016 verhindern wollte.

STANDARD: Was müsste man in der EU stattdessen tun, um Griechenland zu helfen?

Knaus: Man müsste mit Athen über zwei Dinge reden und sie miteinander verbinden: über gemeinsame schnellere Asylverfahren, auch mit europäischer Unterstützung, sowie eine Wiederaufnahme der bis 2017 gelaufenen Relocationprogramme von in Griechenland anerkannten Flüchtlingen in andere Länder der Union. Was Griechenland verständlicherweise nämlich nicht will, sind deutsche Asylbeamte, die Flüchtlingen auf griechischen Inseln Asyl gewähren – und die Flüchtlinge müssen danach alle in Griechenland integriert werden.

STANDARD: Angesichts der aktuellen Zuspitzung haben Sie in einem Interview Montagabend in der "ZiB 2" dringlich vor einem historischen Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention gewarnt. Warum?

Knaus: Dazu gibt es eine Vorgeschichte und die hat mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu tun. Im September 2015 hat dieser in einer Rede am Plattensee gemeint, Europa könne sich die Menschenrechte – dieses, wie er sagte "liberale Geplappere" – nicht mehr leisten. Die Welt sei arm, Europa reich, viele Menschen wollten hierher; Menschen, die Orbán als Invasionsarmee bezeichnet. Solche Ansichten heben ein seit Jahrzehnten praktiziertes Grundrecht auf – und genau das hat Orbán zuletzt auch praktisch getan, indem er das Recht auf Asyl für Ungarn ausgesetzt hat. Aus Wien oder anderen europäischen Hauptstädten habe ich dazu bisher kein Wort des Protests gehört.

STANDARD: Würden andere europäische Regierungen es Orbán gleichtun, wenn es keine Lösung der aktuellen flüchtlingspolitischen Krise gibt?

Knaus: Zu hundert Prozent – und zwar nicht nur europäische. Was Orbán sagt, kommt auch von US-Präsident Donald Trump. (Irene Brickner, 3.9.2020)