Bernie Sanders ist vor allem für junge Amerikanerinnen und Amerikaner alles andere als eine Marionette.

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Eine Frau und ihr Baby unter einer Straßenlaterne, neben einer Mülltonne: In Rockin’ in the Free World beschrieb Neil Young vor 30 Jahren das Leben einer Obdachlosen. Jetzt peitscht der Song aus den Lautsprechern der Sportarena in Springfield, Virginia. Plötzlich steigt ein Mann mit schlohweißem Haar aufs Podium, genießt den Applaus, ballt die Fäuste: "Wow, es sind viele Leute hier!" Worauf ihn 6.000 Menschen feiern wie einen Rockstar, obwohl es doch nur eine banale Feststellung ist. Stundenlang haben sie draußen in eisigem Wind gewartet. Jetzt wedeln sie ausgelassen mit blauen und weißen "Bernie"-Postern.

"Die Schlaumeier behaupten: Bernie kann Trump nicht schlagen", sagt Bernie Sanders. "Nun, da erlaube ich mir, höflich zu widersprechen: Wir sind das stärkste Team, um Donald Trump zu besiegen!" Er lässt seinen Zeigefinger wild durch die Luft fahren, während er stolz verkündet, dass sich kein anderer Kandidat auf so viele Kleinspender stützen könne: bisher zwei Millionen, im Durchschnitt 18,50 Dollar pro Spende. Daran erkenne man, welche Begeisterung er wecke. Und nur so lasse sich im November die Wahl gewinnen.

"Wir gewinnen gegen Trump"

Diese Leidenschaft werde Leute anstecken, die sonst vielleicht bloß zugeschaut hätten: junge Menschen, einfache Arbeiter, vom Staat Abgehängte. "Wir gewinnen gegen Trump, indem wir die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte dieses Landes erreichen werden!", ruft er aus.

Zu Sanders, dem Senator aus Vermont, kommen vor allem Jüngere. Und er kennt ihre Sorgen. Er verspricht, dass man für ein Studium an einer öffentlichen Universität nichts mehr bezahlen muss. Unter einem Präsidenten Sanders, ergänzt er, würden alle Studienschulden gestrichen. Kostenlose Unis habe es in Amerika schon einmal gegeben. Sogar unter dem Republikaner Dwight Eisenhower, in den 1950er-Jahren, sei das selbstverständlich gewesen, bevor neoliberales Denken den Diskurs so verschoben habe.

"Die Schlaumeier sagen: Dieser Sanders hat aber radikale Ideen. Hört mal: Ich werde euch sagen, was wirklich radikal ist!" Radikal sei es, wenn das Vermögen der Milliardäre des Landes in den letzten drei Jahren um 700 Milliarden Dollar gewachsen sei. Radikal sei es, wenn eine halbe Million Menschen auf der Straße schlafen müssten. Radikal sei es, wenn Amerikaner für Arzneimittel die mit Abstand höchsten Preise der Welt zu zahlen hätten. Radikal sei es, wenn von allen großen Industrieländern die USA als einzige nicht jeden Bürger versicherten.

Der Gewerkschafter Andrew Stern vergleicht Sanders mit einer Uhr, die vor 40 Jahren stehengeblieben sei und nun, 2020, wieder die richtige Zeit anzeige. Damals habe man ihn ignoriert – heute aber höre ihm das Land zu, weil er einen Nerv, den Zeitgeist, treffe.

2016 war er der Rebell, der die Favoritin Hillary Clinton um ihren Sieg bangen ließ. Diesmal würde es niemanden überraschen, wenn er das Rennen der demokratischen Präsidentschaftsbewerber für sich entschiede. Elizabeth Warren war mit einem ähnlichen Programm angetreten. Im Kreuzfeuer der Kritik machte sie hier und da einen Rückzieher, was ihr die Parteilinke verübelte, sodass sie bei den Vorwahlen bisher keinen Stich machte. Sanders aber macht keine Rückzieher – auch das bewundern seine Anhänger an ihm.

"Es geht um den Charakter"

Unter den Zuschauern in Springfield steht Philip Walsh. 54 Jahre alt – kein jugendlicher Fan, was an diesem Tag schon ein wenig auffällt, weil die meisten in der Halle noch keine 30 sind. Walsh ist Republikaner – nur eben einer, der den Republikaner Trump nicht wählen wird. "Es geht mir um den Charakter. Bei Bernie habe ich das Gefühl, dass er ehrlich ist", sagt er. "Und von Etiketten halte ich nichts. Okay, es gibt Leute, die rümpfen die Nase, weil Bernie dieses Etikett trägt, auf dem 'Sozialist' steht." Ihn, Walsh, interessiere nur der Inhalt der Packung, auf der das Etikett klebe.

Walsh hat bei der Kriegsmarine gedient und in Kernkraftwerken gearbeitet, er ist mit einer in der Schweiz geborenen Frau verheiratet und findet, dass es nicht schaden könne, wenn Amerika hier und da von Europa lerne. Wenn es wegkomme von einer kurzatmigen Wirtschaftsphilosophie, bei der sich alles nur um Shareholder Value drehe, um Quartalsprofite. Und dass jeder eine Krankenversicherung habe, sei in anderen Teilen der Welt völlig normal. Falls Sanders das alles meine, wenn er vom demokratischen Sozialismus rede, dann habe er dagegen nichts einzuwenden.

Für Ältere, sagt Walsh, klinge Sozialismus noch immer unamerikanisch, nach Eisernem Vorhang, Kaltem Krieg, nach Atomschutzbunker. Doch bei Sanders sei es eben nicht mehr als ein Wort, ein Erkennungszeichen: "Hier ist jemand, der die Richtung unseres Denkens zu ändern versucht. Und schon das zählt."

Sanders, so doziert der Historiker Michael Kazin im New Yorker, erinnere an Franklin D. Roosevelt; er lasse an dessen New Deal denken, der dem amerikanischen Patienten nach der Großen Depression wieder auf die Beine half; an eine Ära, in der sich die USA dem, was man in Europa Sozialdemokratie nenne, so weit angenähert hätten wie sonst nie. Andererseits bediene sich der Senator einer populistischen Rhetorik – was ihn mit Trump verbinde. Doch während Trump gegen ein politisches und kulturelles Establishment wettere, das die Interessen weißer Amerikaner verraten habe, richte sich Sanders’ Polemik gegen eine Elite, die eine große Mehrheit der Amerikaner – unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Herkunft – zu kurz kommen lasse.

"We will win!"

Kritiker kreiden Sanders an, er habe noch nie seriös vorgerechnet, wie er seine Projekte bezahlen wolle – dennoch belässt es der 78-Jährige stets bei einer groben Skizze: Er will die Verteidigungsausgaben senken und die für gebührenfreie Colleges nötigen Einnahmen durch eine "bescheidene" Transaktionssteuer an der Börse generieren. Umso konkreter wird das Budgetbüro des Kongresses: Von 2021 bis 2030 würde die Umsetzung von Sanders’ Plänen rund 54 Billionen Dollar kosten. Allein für "Medicare for All" müsste der Fiskus 17,5 Billionen Dollar ausgeben, für den "Green New Deal" weitere 16,3 Billionen. Wollte man dafür keine zusätzlichen Schulden machen, müsste man die Steuern verdoppeln.

In der Sportarena von Springfield sind solche Rechenspiele weit weg. Mit ewigen Bedenken, mit Sprüchen von gestern, mit langweiliger Establishment-Politik habe man keine Chance gegen Trump, wettert Sanders: "Wir aber gewinnen, indem wir die Leute mitreißen!" Und schon schmettern Sprechchöre durch die Arena: "We will win! We will win! We will win!" (Wir werden siegen!) (Frank Herrmann, 3.3.2020)